Der wahre Islam in Leipzig
Über den Islam wird inzwischen auch in Sachsen viel gesprochen, mit Muslimen allerdings weitaus seltener. Da die persönliche Begegnung mit Vertretern anderer Glaubensrichtungen unverzichtbar ist, wenn man sich ernsthaft um eine gegenseitige Verständigung bemühen will, hat die Arbeitsgemeinschaft ,Religiöse Gemeinschaften" des Evangelischen Bundes Sachsen im Januar 2003 die Leipziger Ar-Rahman-Moschee besucht.
Kindergarten als Moschee
Das Gebäude an den Bahngleisen in der Leipziger Roscherstraße ist äußerlich nur durch ein großes an der Giebelseite angebrachtes Schild von einem gewöhnlichen etwas heruntergekommenen Wohnhaus zu unterscheiden. Früher beherbergte es einen Kindergarten.
Ein Minarett und eine Kuppel gibt es nur auf dem Bild an der Wand. In der Realität aber gibt es einen extra Eingang für die Frauen. Diese haben quasi ihre Moschee in der Moschee, mit eigenem Platz zum Ausziehen der Schuhe, eigenen Waschgelegenheiten, eigenem Versammlungs-, Gebets- und Unterrichtsraum - nur alles etwas kleiner als für die Männer. So sortiert sich auch unsere Gruppe beim Betreten des Hauses nach Geschlechtern, im Inneren können wir allerdings dank offener Türen wieder zusammenkommen.
Begrüßt wurden wir von Hassan Dabbagh, einem gebürtigen Syrer, der seit 1995 Leiter des Moscheevereins und einziger Imam der Leipziger Muslime ist. Er berichtet uns bei einem Rundgang durch die Räume, dass etwa 50 Muslime zum engeren Kern der Gemeinde gehören, die regelmäßig an den Gebeten teilnehmen. Zum Freitagsgebet können es aber auch schonmal 400 werden. Die Räume sind sehr schlicht hergerichtet, die Kacheln im ehemaligen Küchentrakt einfach überstrichen. Wandtafeln und ihre Beschriftung zeigen, dass es sich hier auch um Unterrichtsräume handelt, in denen koranische Lehraussagen auf deutsch vermittelt werden. An einer anderen Wand hängt der Zeitplan für die Gebete, die entsprechend den wechselnden Sonnenauf- und -untergängen zu verschiedenen Uhrzeiten zu verrichten sind.
Islam elementar
Nach unserem Rundgang erläutert uns Hassan Dabbagh einige Grundzüge des Islam aus seiner Sicht. Man müsse unterscheiden, was im Koran steht (als absoluter Norm), was davon verstanden wurde, und was davon auch tatsächlich verwirklicht wurde. Die Medien zeigen ein Bild des Islam voller Vorurteile, um die Absichten der Politik zu unterstützen.
Die Grundlagen seiner Weltanschauung schildert er mit einfachen Worten und sieht dabei zunächst weitreichende Übereinstimmungen zum Christentum: Wir sind alle Diener Gottes und müssen ihn anbeten, er hat uns Propheten gesandt, die uns zeigen, wie wir leben sollen, und wer sich danach richtet, der kommt in den Himmel, die anderen nicht. Im Islam gibt es keine Person, die eines anderen Lasten trägt. Eines jeden Werke stehen für seine eigene Person. Mohammed war der letzte der Propheten in einer langen Reihe von Adam über Noah und Mose bis zu Jesus. Dabei habe er nichts anderes gebracht als schon Jesus gelehrt hat: die rechte Gottesanbetung. Christentum und Judentum seien auch göttliche Religionen, alle anderen nicht.
Die Grundlehre des Islam ist Anbetung und Dankbarkeit. Anbetung ist notwendig für das Muslim-Sein.
Der wahre Islam
Mehrfach kommt Hassan Dabbagh auf die Unterscheidung des wahren Islam von seinen verschiedenen geschichtlichen Ausprägung zu sprechen. Den wahren Islam gibt es bis heute, davon ist er überzeugt. Aber viele haben in der Geschichte an ihm geändert. ,Wir nicht." Vielerorts gebe es eine Entwicklung in der Religion. ,Bei uns nicht" betont er stolz. In der Kultur gebe es viele Sachen, die sind total nicht vom Islam. Aber die Leute haben oft keine Ahnung von der Religion. Überhaupt gebe es gar keinen ,islamischen" Staat, denn alle haben die Religion geändert, aber das dürfe man nicht. Insbesondere den Iran nennt er eine ,falsche Religion". Eine Sehnsucht zurück zu den Wurzeln des Islam (wie er sie in seinem Herzen spürt) findet er nur selten. Viele Muslime, die ihre Religion praktizieren möchten, hätten in Deutschland nicht ausreichend Möglichkeiten dazu. Muslime werden durch Gesetze und Medien diskriminiert, Moscheen würden von der Polizei geschlossen. (Warum genau sie geschlossen wurden, erwähnt er aber nicht.) Die meisten hoffen, so Dabbagh, irgendwann in ein islamisches Land umzuziehen, um dort wie die anderen ganz normal leben zu können.
Diese Aussage ist nicht unbedenklich. Sollte sie zutreffen, sind viele Bemühungen um Integration der Muslime von vornherein zum Scheitern verurteilt. Die darin ausgedrückte Grundstimmung ist die eines zeitlich befristeten ,Überwinterns" in einer schwierigen Umgebung. Ein positives Engagement in dieser Gesellschaft dürfte damit schwer zu vereinbaren sein.
Konversion und Ehe
Die Leipziger Gemeinde ist noch relativ Jung, die meisten sind zwischen 20 und 35 Jahre, dazu gehören ca. 100 Kinder. Ca. 5000 bis 6000 Muslime leben in Leipzig. Im Durchschnitt einmal pro Woche kommt jemand neu zur Gemeinde. Die meisten dieser Konvertiten sind durch eine Ehe veranlasst. Zwar dürfen Muslime, wie Hassan Dabbagh erläutert, Christinnen und Jüdinnen heiraten, ,aber wir machen das hier nicht, das vermeidet Probleme. Ich sperre diesen Weg vom Anfang." Seit 5 Jahren schließt er nur Ehen zwischen Muslimen. Darin ist er erklärtermaßen noch strenger als die islamischen Rechtsgebote der Scharia. Dies führt zu einer zeitweise heftigen Diskussion um die Frage der Religionsfreiheit und das Recht zur Konversion.
Religionsfreiheit?
Darf man seinen Glauben wechseln, seine Religion verändern? Im Fall einer Konversion zum Islam hat Hassan Dabbagh damit kein Problem, im anderen Fall aber sehr. Kernfrage für ihn ist die Wahrheit. Entweder ist der Islam wahr oder nicht. Wenn jemand die Wahrheit des Islam erkannt hat, und sie dennoch wieder verlassen will, dann gibt es ,verschiedene Gesetze". ,Bei uns darf man das nicht." Man nimmt den Islam in einer freien Entscheidung an (das betont er immer wieder), daraus folgt dann auch eine Verantwortung. In einem islamischen Land kommt so eine Person vor den Richter. Wer die Wahrheit kennt und weiß, und sie dennoch nicht will, verhalte sich wie jemand, der die Verkehrsregeln zwar kennt, aber missachtet und z. B. in einer verkehrsberuhigten Zone rast.
Nach seiner Überzeugung würden und müssten andere Religionen genauso handeln. Dass das Christentum dem Menschen größere Freiheiten gewährt und Religionsfreiheit das Recht zum Wechsel der eigenen Religionszugehörigkeit in verschiedene Richtungen ohne äußere Repressionen einschließt, war in diesem Gespräch kaum zu vermitteln. Die Religionen befinden sich in einem Wettstreit um die Wahrheit - darin ist ihm zuzustimmen. Aber welche Mittel und Methoden in dieser Auseinandersetzung zulässig sind, darüber besteht offenbar ein Dissens. Nach heutiger christlicher Überzeugung ist (trotz mancher Verstöße in der Vergangenheit) äußerer Zwang kein legitimes Mittel im Glaubensstreit. Das Recht zur Werbung für den eigenen Glauben mit Argumenten und dem Zeugnis des eigenen Lebens muss hingegen allen Zugestanden werden - sowohl den Muslimen bei uns, als auch den Christen in muslimischen Ländern.
Hassan Dabbagh argumentiert mit den Begriffen Toleranz, Bekenntnis und Wahrheit dagegen: Toleranz bedeute nicht, andere Fehler weiter machen zu lassen. Nicht jedes Bekenntnis sei richtig (es gibt auch Menschen, die Steine anbeten). Wahrheit gibt es absolut und relativ. Als Mensch haben wir sie nur relativ, bei Gott aber ist sie absolut, Gott hat keine Fehler. Diese Einsicht führt aber nicht zu einer (in gewisser Weise notwendigen) Selbstrelativierung des eigenen Standpunktes als eines menschlichen, sondern unter Berufung auf den inspirierten Koran zur mutigen Inanspruchnahme der göttlichen Absolutheit für die eigene Glaubensauffassung. „Wir haben keinen Zweifel in der Religion, sondern Gewissheit. Sein Wort ist die Wahrheit."
Zurück zum konkreten Beispiel: Eine junge Frau, verliebt in einen Muslim, konvertiert durch diese Beziehung veranlasst zum Islam. Später kommen ihr Zweifel an dieser Entscheidung und sie möchte den Islam wieder verlassen. Für Hassan Dabbagh kann dies nur bedeuten, dass sie nie richtig Muslima gewesen sei. Sie habe den Islam nicht aus freien Stücken angenommen, sie habe bei ihrem Eintritt gelogen. An dieser Stelle zeigte sich ein deutliches Unvermögen, eine solche biographische Entwicklung mit ihrer inneren Dramatik und den oft vorhandenen Brüchen angemessen nachzuvollziehen. Er entwickelt das Bild der um menschliche Gefühle und Emotionen besorgten christlichen Besucher auf der einen und des strengen aber darin Gott und seinem Gesetz treuen Imam auf der anderen Seite. „Bei mir das Gesetzliche, bei Ihnen das Menschliche." Vielleicht ist es in solchen Situationen wichtig, sich zu erinnern, dass Gott mit Jesus nicht einen neuen Gesetzeslehrer geschickt hat (wie ihn der Islam sieht), sondern selbst Mensch geworden ist, um den Menschen in ihrer Not nahe zu sein und sie daraus zu erlösen.
Mittagsgebet
Exakt zur errechneten Uhrzeit wird unsere Diskussion durch den Ruf des Muezzin zum Mittagsgebet unterbrochen. Wir dürfen als Beobachter daran teilnehmen, den Frauen wird gestattet, von hinten durch die geöffnete Tür zuzusehen. Beeindruckend war, mit welcher Herzlichkeit sich einige der Muslime, die zeitweise still an unserem Gespräch mit dem Imam teilgenommen hatten, sich nach dem Gebet und am Ende der Begegnung von uns verabschiedeten. Auch wenn man es vorher nur schwer aus den Gesichtern lesen konnte - hier spürte man, wie gut und wichtig ihnen unser Besuch war.
Was wäre wenn...
Rückblickend war es ein wichtiges und auch sehr spannendes Treffen. Es war eine Begegnung mit einem mutigen und engagierten Vertreter des Islam, der seine Meinung offen bekennt und nicht etwa aus diplomatisch-taktischen Gründen uns gegenüber verschwiegen hätte. Dies ist ihm hoch anzurechnen. Dennoch (oder deshalb?) bleiben Bedenken nach diesem Besuch.
Mehrfach unterschied er zwischen
- dem, was im Koran geboten sei,
- was davon Menschen in der Praxis unter idealen Umständen einhalten können und
- was davon unter den momentanen Umständen möglich ist.
Über den Bereich von b) wollte er nicht spekulieren. Mit etlichen Geboten kann der Islam einen sehr pragmatischen Umgang pflegen: woran man (z. B. in einem bestimmten Land) objektiv gehindert ist, das kann ohne Schuld unterbleiben. Allerdings soll man auf die Beseitigung der Hindernisse hinarbeiten, um auf längere Sicht zu einer vollständigen Erfüllung der Glaubenspflichten zu gelangen. Auf den kontrovers diskutierten Problemkreis der Religionsfreiheit bezogen bedeutet dies: Momentan (c) besteht für den Leipziger Imam praktisch keine Möglichkeit, ,Abfall" vom Glauben mit gesellschaftlichen Sanktionen zu belegen. In einer von ihm anzustrebenden muslimischen Gesellschaft (b) würde dies aber wohl dazugehören. Auch wenn er dies nicht konkret ausgesprochen hat, war es aus dem Gesagten deutlich zu erschließen. Darauf angesprochen, ob er das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland mit dem Islam (a) für vereinbar halte, lautete die Antwort: Teils teils. Manches durchaus, anderes nicht. Konkreter wurde er nicht. An diesem Punkt ist aber m. E. von Muslimen, die in Deutschland leben und sich gesellschaftlich engagieren, eine deutlich positivere Grundeinstellung zu unserer demokratischen Ordnung einzufordern. Eine Duldung im Sinn eines ,Überwinterns unter widrigen Umständen" (c) ist dafür nicht ausreichend.
Fazit
Was ist nun der wirkliche Islam? Steht die Leipziger Moschee mit ihrem streitbaren Imam für die Muslime in Sachsen, oder ist es eine in ihrem eigenen Absolutheitsanspruch vielleicht sogar sektiererische Sonderrichtung? Die Frage bleibt auch nach diesem Besuch. Es bewahrheitet sich einmal mehr die alte Erkenntnis, dass es den Islam genausowenig gibt wie das Christentum, sondern eine große Breite der in diesen Religionen vertretenen Meinungen und Lebensstile. Mit denen gilt es sich konstruktiv auseinanderzusetzen - ohne Verteufelungen und ohne leichtfertige Anbiederungen, sondern in einem offenen und ehrlichen Dialog. Von diesem darf man keine Wunder erwarten, aber im Blick auf ein friedliches Zusammenleben gibt es dazu keine Alternative.