Deutschland in der Pandemie
Die Coronapandemie macht allen zu schaffen. Auf vielen Ebenen wird der Streit in der Gesellschaft über den „richtigen“ Weg durch die Pandemie diskutiert. Wichtig kann dabei die Erkenntnis sein, dass sich zwischen der ersten (März 2020) und der zweiten Welle (Herbst 2020) ein Strategiewechsel im Regierungshandeln in Deutschland vollzogen und zwischen der zweiten und der dritten Welle (März 2021) zudem das Virus seinen Charakter geändert hat.
Die erste Welle
Mit dem Anwachsen der ersten Welle wurden relativ schnell radikal einschneidende Maßnahmen beschlossen und umgesetzt. Im Hintergrund standen hier die wissenschaftlichen Berechnungen, die ein exponentielles Wachstum der Infektionen zeigen. Bei 10% schweren Verläufen und ca. 3% tödlichem Verlauf stand nicht nur der absehbare Zusammenbruch des Gesundheitssystems, sondern der gesamten öffentlichen Ordnung zu befürchten. Diese Sorge gab den Mut dazu, das gesamte öffentliche Leben einschließlich der Schulen und des Einzelhandels für eine begrenzte Zeit einzustellen. Weil die Maßnahmen relativ früh eingeleitet und einigermaßen konsequent umgesetzt wurden, zeigten sie Wirkung. Die Katastrophe konnte abgewendet werden. Das Regierungshandeln stand weitgehend im Einklang mit den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Fachinstitutionen. Auch die Kirchen haben aus eigener Einsicht und aus theologischer Begründung heraus (Nächstenliebe steht über bestimmten Kultusformen, vgl. Lk 10) ähnliche Konsequenzen gezogen und für einige Zeit auf Präsenzgottesdienste verzichtet. Zugleich sei daran erinnert, dass auch in der ersten Welle die Maßnahmen in Deutschland nie so hart waren wie in den Nachbarländern (Frankreich, Tschechien), wo die Menschen z.T. nicht einmal vor die Tür durften.
Das Präventionsparadox und seine Folgen
Alle Präventionsmaßnahmen haben mit einem grundsätzlichen Problem zu kämpfen: Sie wollen ein drohendes zukünftiges Unheil verhindern. Wenn sie erfolgreich sind, tritt das Unheil nicht ein. Deshalb wird es dann nicht mehr als so bedrohlich wahrgenommen. Damit sinkt die Bereitschaft, zu dessen Verhütung diesen Aufwand zu betreiben, weil ja nichts Schlimmes passiert ist.
Das ist auch hier geschehen: Der Erfolg der ersten Maßnahmen führte dazu, dass in Deutschland weder Kliniken noch Friedhöfe überliefen und den ganzen Sommer über die Infektionsraten relativ niedrig blieben. Wo nun kaum jemand jemanden kennt, der oder die tatsächlich infiziert ist und in der Verwandtschaft keine schweren Fälle aufgetreten sind, da können Erzählungen andocken, die meinen, Corona sei übertrieben und nicht schlimmer als eine Grippe. Die unmittelbare Folge: Gegenmaßnahmen verlieren an Akzeptanz. Coronaleugner und Quergläubige wachsen auf diesem Boden.
Die zweite Welle
Als nun im Herbst 2020 die zweite Welle die Infektionszahlen steigen ließ, war die Situation und die Regierungslinie in folgenschweren Punkten verändert. Man hatte nun bereits Erfahrungen gemacht:
- Corona ließ nicht die öffentliche Ordnung zusammenbrechen.
- Schulschließungen lösen besondere Härten aus und beeinträchtigen die Wirtschaft.
Weil zudem Masken und Testmöglichkeiten eine gewisse Steuerbarkeit suggerieren, führte dies dazu, die Lockdown-Maßnahmen viel zögerlicher und weniger konsequent zu beschließen. Damit waren sie auch deutlich weniger wirksam. Statt „Verhindern der Pandemie“ war das Ziel jetzt nur noch, ihr die Spitze abzubrechen. Wirtschaftliche Einschnitte sollten möglichst begrenzt werden.
Dadurch sind die Lasten aber sehr ungleich verteilt: Kunst, Kultur und Gastronomie sind über Monate zu, Schulen und Betriebe offen, der Handel ist dazwischen mit angezogener Handbremse unterwegs. Der Effekt ist keine wirkliche Reduktion, sondern ein Dauerlockdown auf mittlerem Niveau: zu wenig, um die Situation nachhaltig zu bessern, zu viel, um nicht doch über die Einschränkungen berechtigt zu klagen. Das erhöht Frust auf allen Seiten.
In der dritten Welle
In dieser Situation startete Deutschland im März 2021 von einem relativ hohen Infektionsniveau aus in die dritte Welle. Zu dem veränderten politischen Umgang in der 2. Welle gehört eine stärkere Abkoppelung der Realpolitik von den Erkenntnissen der wissenschaftlichen Institute. Die halbgewalkten und zu spät ergriffenen Maßnahmen, (u.a. neu festgelegte Inzidenz-Grenzwerte) entsprachen nun nicht Prognosen, sondern dem, was für politisch machbar gehalten wurde. Dafür sind „gefühlte“ Wirklichkeiten der politisch Verantwortlichen handlungsleitend. Höhere Opferzahlen sind politisch akzeptiert, wie das Kriterium der Auslastung von ITS-Stationen beweist.
Handlungsstrategien
In den gesellschaftlichen Debatten lassen sich grob drei Handlungsstrategien unterscheiden, die jeweils andere Unterstützerkreise finden:
a) Pandemie besiegen („LowCovid“ bzw. „NoCovid“): Diese Strategie fordert konsequente und ggf. auch einschneidende Maßnahmen für eine begrenzte Zeit mit dem Ziel, die Infektionsraten wirklich effektiv auf ein niedriges Niveau zu senken. Das bedeutet für ca. 2-4 Wochen einen harten Lockdown, bei dem wirklich fast alles bis auf die absolut überlebensnotwendige Infrastruktur geschlossen wird, um das Virus „auszuhungern“. Das Gedankenexperiment dahinter ist schlicht, aber logisch: Wenn während der Inkubationszeit niemand einen anderen ansteckt, ist die Pandemie vorbei. Der Preis dafür sind starke persönliche Einschränkungen und große wirtschaftliche Ausfälle während dieses Lockdowns. Aber die Erwartung ist, dass diese konsequenten Maßnahmen viel kürzer ausfallen können und damit insgesamt auch die Wirtschaft deutlich weniger belasten, als ein halbgarer Dauerlockdown über Monate und ohne Aussicht auf ein Ende. Bei Erfolg winken danach also viel schnellere und größere Freiheiten. Erfolgsbeispiele aus anderen Ländern sind sichtbar. Das Konzept bringt auch eine realistische und vergleichsweise nahe Öffnungsperspektive für Kunst und Einzelhandel. Zudem vermeidet es unnötige Sterbefälle an Covid. Das größte Problem dieses Ansatzes ist: Er funktioniert nur, wenn eine ausreichende Mehrheit der Bevölkerung auch überzeugt mitmacht. Wenn zu viele aus mangelnder Einsicht die Sache unterlaufen, wird der Erfolg gefährdet.
b) Pandemie begrenzen oder „Durchwurschteln mit Kompromissen“: Die Regierungsmaßnahmen der 2. und 3. Welle folgen diesem Modell und bewirken keine effektive Senkung der Infektionszahlen, sondern lediglich knapp unter dem Kollaps des Gesundheitssystems vorbeizuschrammen. Das ist angesichts der exponentiellen Dynamiken der Infektionen und im Blick auf die permanente Überlastung der Intensivmedizin sehr riskant. Aber es erscheint den Verantwortlichen als der derzeit mögliche politische Kompromiss. Kurzfristig scheinen die wirtschaftlichen Beeinträchtigungen niedriger als bei der NoCovid-Strategie. Ob das auf längere Sicht auch noch gilt, ist ungewiss. Schlecht könnte die Bilanz aussehen, wenn man die langfristigen gesellschaftlichen Kosten mit einberechnet, die durch Tod jüngerer Menschen oder viele Long-Covid-Erkrankungen entstehen.
c) Alles laufenlassen. Die dritte Strategie fordert einen sofortigen Verzicht auf alle einschränkenden Gegenmaßnahmen (einschließlich Tests und Maskenpflicht). Faktisch soll der Krankheit ihren Lauf gelassen werden.
Sinnvoll vertretbar ist diese Position nur unter zwei Voraussetzungen:
- Es wird davon ausgegangen, dass Covid19 eher harmlos und die Pandemie ein von Medien erzeugtes Phänomen sei, dessen Gefahren massiv übertrieben würden.
- Die Augen werden vor der Situation auf den Intensivtherapiestationen verschlossen und niemand aus dem engeren persönlichen Umfeld ist von schweren Verläufen betroffen.
Es ist erstaunlich, welches Maß an Ignoranz gegenüber gegenläufigen Nachrichten Menschen aufbringen können, wenn es zur Vermeidung eigener kognitiver Dissonanzen beiträgt. Sowohl der Widerstand gegen Infektionsschutzmaßnahmen als auch die Neigung zu Verschwörungsdenken sind mit dieser Strategie in starker Weise verbunden.
Die Kirchen
Die bisherige Rolle der Kirchen in der Pandemie ähnelt insofern der staatlichen Linie, dass der Schwenk von Strategie a) zu b) mitvollzogen wurde. Wurden in der 1. Welle aus eigener Überzeugung Gottesdienste abgesagt, so sind in der 2. und 3. Welle die administrativen Vorgaben reduziert und viel Verantwortung auf regionale Ebenen verschoben worden. Die allgemeinen Vorgaben definieren zwar verbindliche, aber relativ weite Grenzwerte. Präsenzgottesdienste sind wieder der Normalfall, wenn auch in stark eingeschränkter Form (ohne Gemeindegesang).
Auch in Freikirchen ist das Bild im Wesentlichen identisch. Es gab hin und wieder Medienberichte, die kleinere Kirchen als Pandemietreiber gezeichnet haben, aber insgesamt trifft das nicht die Wirklichkeit. In den allermeisten Freikirchen ist der Umgang mit dem Infektionsgeschehen mindestens so verantwortungsvoll wie in evangelischer oder katholischer Kirche.
Obwohl es in den Gemeinden vielerlei Aktivitäten gab, auch jenseits der Präsenzveranstaltungen Kontakt zu halten und Trost und Beistand zu vermitteln, gab es auch Kritik. Das einsame Sterben in den Pflegeheimen mit Zugangssperren war ein großes Problem. Die Seelsorgerinnen und Seelsorger sind mit großem Engagement unterwegs, ohne dafür entsprechende Medienöffentlichkeit zu bekommen.
Mutationen
Es gehört zu den Grundprinzipien der Evolution, dass mit jeder neuen Generation Änderungen im Erbgut auftreten können (sog. Mutationen). Dabei setzen sich diejenigen durch, deren Eigenschaften am besten zur Umgebung passen. Das gilt insbesondere für Viren, die schnelle Reproduktionszyklen aufweisen und damit ständig neue Varianten produzieren. Nun ist es logisch, dass dort, wo hohe Infektionsraten bestehen, also viele Viren sich ständig reproduzieren, auch mehr Mutationen auftreten. Es ist also nur eine Frage der Zeit, wann auch bösartigere Varianten dabei sind, die dann die harmloseren verdrängen. Das ist nun auch in der Covid19-Pandemie schon mehrfach geschehen. „Britische“, „südafrikanische“ oder „brasilianische“ Varianten sind im Umlauf und werden die dominanten Formen. Im Effekt sind diese wie eine neue Krankheit (also Covid-20 oder 21). Die nun vorherrschenden Varianten sind infektiöser und führen zu schwereren Verläufen, auch bei jungen Menschen. Das öffentliche Gefühl wie die Politik hinken aber hinterher und beziehen sich in vielem auf die Krankheit vom vorigen Jahr, wo es um den Schutz der Alten ging und Kinder eine viel kleinere Rolle im Infektionsgeschehen spielten. Entsprechend hart sind die Auseinandersetzungen insbesondere um die Schulöffnungen und Kinderbetreuung. In wieweit der Schutz durch die verfügbaren Impfstoffe auch gegen die neuen Varianten greift, ist mit jeder Mutation wieder eine offene Frage. Insofern bringt die Durchseuchungsstrategie unkalkulierbare Risiken.
Allerdings können auch neue aggressivere Formen die Normalitätshoffnungen der NoCovid-Strategie zerstören und längere Kontaktbeschränkungen erforderlich machen.
Mütend
Nach über einem Jahr Ausnahmezustand zeigt sich vielerorts eine Mischung aus Erschöpfung und Wut, für die der Begriff „mütend“ entstanden ist. Die Krankenhäuser sind nahezu ständig am Limit. Das Pflegepersonal ist schon seit Jahrzehnten knapp und überlastet. Unter den aktuellen Umständen ist die Lage aber dramatisch geworden. Über 30% des Pflegepersonals und fast 20% der Ärzte im intensivmedizinischen Bereich wollen in den kommenden Monaten ihre Stelle aufgeben – die meisten (ca. 70%) wegen der zu starken Belastungen in der Pandemie. (1) Viele Künstler, Theaterschauspieler, Veranstalter, Reiseveranstalter etc. sind seit über einem Jahr ohne Arbeitsmöglichkeiten. Kunst und Kultur sind ebenso wie Gastronomie und Touristik vom anhaltenden „Dauerlockdown-light“ existenzbedrohend betroffen. Eine Änderung ist nicht in Sicht und das zehrt an den Kräften. Eltern hangeln sich in Ungewissheit von Woche zu Woche: Bleibt die Schule meiner Kinder offen? Schleppen die Kinder die Infektionen in die Familie ein? Während Indien im Chaos versinkt, richten sich hier alle Hoffnungen auf den Fortschritt bei den Impfungen. Forscher warnen, dass zu hohe Infektionsraten Escape-Varianten erzeugen, die auch Geimpfte befallen könnten.
Insgesamt zeigt sich ein Bild, das von unterschiedlichen Facetten geprägt ist. Es gibt immer wieder starke und erfreuliche Zeichen gesellschaftlicher Solidarität. Zugleich zeigt die Bewegung der Querdenker auch ein erstaunliches Maß an Egoismus und selektiver Wahrnehmung der Situation. Rechtsextreme Gruppen aller Schattierungen versuchen mit Geschick, die diffuse allgemeine Unzufriedenheit auf ihre Mühlen umzuleiten.
Dazwischen befindet sich eine Regierung, die den Bonus und die guten Zustimmungswerte für das entschlossene Handeln in der ersten Welle nicht auf das Lavieren in der 2. und 3. Welle übertragen konnte und zwischen den Positionen aufgerieben wird. Eine der Aufgaben für die Gesellschaft wird sein, das Verhältnis zur Wissenschaft neu zu justieren.
Harald Lamprecht
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1 www.aerzteblatt.de/nachrichten/123219/
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