Der Staat als Mittäter?
Der Verfassungsschutz ist ins Gerede gekommen. Nicht nur das Chaos um den gescheiterten ersten Anlauf zum NPD-Verbotsverfahren, sondern auch die nun allmählich durchsickernden Skandale im Zusammenhang mit dem Umfeld der Terrorgruppe „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) haben offenbar ein Fass zum überlaufen gebracht. In den Medien wird inzwischen offen über eine tiefgreifende Umstrukturierung der Ämter spekuliert und auch Stimmen sind zu hören, die eine völlige Abschaffung dieser Institution fordern. Kann es in dieser politischen Debatte auch Argumente geben, die von einem christlichen Standpunkt aus formuliert sind? Im Blick auf Stammzellenforschung und Familienpolitik scheint es selbstverständlich, dass die Kirchen auch ihre Sicht in die Debatte einbringen. Dies sollte für den wichtigen Bereich der Grundlagen unserer demokratischen Ordnung auch gelten.
Das V-Mann-Dilemma
Ein bedeutsames Instrument bei der Informationsgewinnung der Geheimdienste ist der Einsatz von sogenannten V-Personen. Im Unterschied zum verdeckten Ermittler handelt es sich dabei nicht um Mitarbeiter der Behörde, sondern um Privatpersonen. Diese stammen aus dem zu beobachtenden Milieu und werden dazu gebracht, regelmäßig Informationen aus ihrem Umfeld an den Geheimdienst zu geben. Die Anwerbung von V-Personen ist ein diffiziles Geschäft – schließlich geht es darum, jemanden dazu zu bringen, seine Freunde zu verraten. Entsprechend vielfältig sind die dafür instrumentalisierten Motive. Dazu gehören neben der Ausnutzung von persönlichen Zwangslagen regelmäßig auch Anreize durch Geldzahlungen, die natürlich so bemessen sein müssen, dass sie die notwendige Motivationsleistung auch dauerhaft erbringen. An den Hartz-IV-Sätzen kann man sich dabei folglich nicht orientieren. Ein Schutz vor Strafverfolgung ist zwar in den Richtlinien zum Einsatz von V-Personen1 nicht vorgesehen, dürfte in der Praxis dennoch eine gewisse Rolle spielen. Um zu verhindern, dass die angeworbenen Personen nur wertlose oder falsche Informationen berichten, werden idealerweise mehrere Personen aus derselben Gruppe angeworben. Natürlich sollten diese möglichst nichts voneinander wissen, so dass deren Auskünfte zur Plausibilitätsprüfung miteinander verglichen werden können. Das erhöht die Zahl der V-Personen aber deutlich.
Mit dem breiten Einsatz von V-Leuten durch den Verfassungsschutz sind eine Reihe schwerwiegender moralischer, juristischer und demokratietheoretischer Probleme verbunden, die offenbar noch nicht ausreichend diskutiert wurden.
1) Finanzierung der Szene:
Von enttarnten V-Personen in der rechtsextremen Szene wurde mehrfach geäußert, dass die beträchtlichen Zahlungen der Landes- und Bundesämter für Verfassungsschutz direkt geholfen habe, die Infrastruktur der Neonaziszene auszubauen. Mitarbeiter des Verfassungsschutzes versuchen demgegenüber zu beschwichtigen und vertreten die Auffassung, dass das Geld überwiegend in den privaten Konsum der Angeworbenen fließe. Das seien nur Schutzbehauptungen der enttarnten Personen, um das Gesicht in der Szene zu retten. Man wird aber davon ausgehen müssen, dass beides geschieht, wobei sich die Anteile naturgemäß nicht exakt nachprüfen lassen. Bedenklich stimmen aber doch die Zahlen, die allmählich durchsickern. So berichtete die Süddeutsche Zeitung, dass V-Mann „Otto“ alias Tino Brandt in der Zeit von 1994 bis 2001 vom thüringischen Verfassungsschutz insgesamt umgerechnet 100 000 Euro bekommen habe. In diesem Zeitraum sollen die Erfurter Geheimen 1,5 Millionen Euro in bar für „nachrichtendienstliche Zwecke“ gezahlt haben.2 Das sind nur Beispiele aus einem Bundesland. Eine unmittelbare Hochrechnung ist davon nicht möglich. Dennoch kann man ahnen, wie möglicherweise die Gesamtsummen aussehen, die an Steuermitteln auf diesem Weg auch in die rechtsextreme Infrastruktur geflossen sind.
2) Mittelbare Mittäterschaft des Staates:
Wem sind die Handlungen, die ein V-Mann begeht, zuzurechnen? Juristisch scheint es klar: Nur der Person selbst. Laut Dienstanweisung der Justizminister dürfen V-Leute keine Straftaten begehen, sonst verlieren sie ihre zugesagte Vertraulichkeit. Theoretisch hat die V-Person mit der Anwerbung und der Annahme der Bezahlung die Seiten gewechselt und arbeitet jetzt für den Staat, auf Weisung des V-Personen-Führers. Aber grau ist alle Theorie. Die Praxis funktioniert nach anderen Regeln. Besagter Tino Brandt war eben kein kleiner Mitläufer, sondern als V-Mann „Otto“ zugleich derjenige, der die Neonazi-Organisation „Thüringer Heimatschutz“ gegründet und aufgebaut hat - nach eigenen Angaben mit dem Geld vom Staat. Der „Thüringer Heimatschutz“ war wiederum die Keimzelle des NSU. Wo liegt die Verantwortung für die Taten, wenn der Verfassungsschutz sich freut, besonders hochrangige Personen als V-Leute zu gewinnen, die in der Struktur Schlüsselpositionen einnehmen? Moralisch und wohl auch faktisch wird hier der Staat zum Mittäter.
3) Vertuschung statt Aufklärung:
Die Gewinnung von V-Leuten ist aufwändig. Sie fallen den Beamten in der Regel nicht zu, deshalb sind sie wertvoll und müssen geschützt werden. Dazu kommt, dass eine längere Zusammenarbeit zwangsläufig ein Verhältnis zueinander entstehen lässt. Weil es keine standardisierte Ausbildung zum Verfassungsschützer gibt, kommt es vor, dass auch „gewöhnliche“ Beamte ohne psychologische Spezialausbildung zum V-Mann-Führer werden, welche die Kontaktgespräche übernehmen. Das sind mögliche Ursachen dafür, dass von Seiten der Polizei Klagen laut werden, der Verfassungsschutz habe ihre Ermittlungen in einer Reihe von Fällen nicht unterstützt, sondern geradezu behindert. So wurden polizeiliche Untersuchungen in der Szene auf Betreiben des Verfassungsschutzes eingestellt,3 es wurden von der Polizei beobachtete Neonazis durch ihre Kontaktpersonen beim Verfassungsschutz darüber informiert,4 es wurden polizeiliche Durchsuchungen durch Vorwarnungen vereitelt und anderes mehr. Einige dieser Sachverhalte sind nur durch den NSU-Untersuchungsausschuss ans Licht gekommen. So kann man wiederum nur spekulieren, wie viel an Vertuschungsaktionen zum Informantenschutz – was in diesem Fall eben auch Täterschutz bedeutet – es wohl noch gegeben hat. Es ist festzuhalten: Die mit dem System des massiven Einsatzes von V-Personen einhergehende Verpflichtung zum Quellenschutz ist der Aufklärung von Straftaten in diesem Milieu nicht förderlich, sondern spürbar im Wege.
4) Unlösbare Verantwortungskonflikte
Wie verhält sich der Staat, wenn „seine“ V-Leute gegeneinander agieren? Das Berliner Landesamt für Verfassungsschutz war 1974 in einen Mordfall im linksterroristischen Milieu verwickelt, bei dem ein vom Verfassungsschutz in die Szene eingeschleuster V-Mann enttarnt und ermordet wurde. Durch mehrere weitere V-Personen hatte der Verfassungsschutz Kenntnis von den Mordplänen, schritt aber nicht dagegen ein oder war sogar selbst darin verwickelt – möglicherweise um seine anderen V-Leute nicht zu offenbaren. Das folgende Gerichtsverfahren entwickelte sich zum längsten Strafprozess in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland (1976-1991) und zu einem Justizskandal, weil das Verfahren vom Verfassungsschutz und mindestens zwei Staatsanwälten massiv manipuliert und behindert wurde. Die Tatwaffe lag 15 Jahre in einem Tresor des Verfassungsschutzes und wurde vor den Strafverfolgungsbehörden verheimlicht. Der Tatverdacht wurde auf mehrere Unschuldige gelenkt, die im ersten Prozess zu teilweise lebenslangen Haftstrafen verurteilt wurden.5
5) Dürftige Ergebnisse
Auch wenn die V-Leute gewiss hin und wieder auch interessante und brisante Informationen beigesteuert haben – das soll gar nicht bestritten werden – bleibt doch aufs Ganze gesehen das Ergebnis ernüchternd. Engagierte Beobachter der Szene kommen auch ganz ohne den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel zu genaueren Einschätzungen der Szene als der Verfassungsschutz, wie unlängst auch der NSU-Untersuchungsausschuss nach einem Gespräch mit Politikwissenschaftlern feststellen muste.6 Trotz V-Leuten blieb dem Bayerischen Landesamt von 1996 bis 1999 das internationale Neonazi-Netzwerk Blood and Honour verborgen. Die Einschätzung des „Freien Netzes“ in Sachsen ist nach wie vor kontrovers: Während das Landesamt für Verfassungsschutz behauptet, es sei nur eine Webseite, schildern linke Szenemedien detailliert die dahinter stehenden Kaderstrukturen.7 Auch der „Nationalsozialistische Untergrund“ war von V-Leuten förmlich umstellt. Seine Entdeckung hat das nicht befördert.
Konsequenzen: Verzicht auf V-Leute
In der Zusammenschau wird deutlich, dass der Einsatz von V-Personen zum Schutz der Demokratie ungeeignet erscheint.
Bei der Kriminalitätsbekämpfung geht es um konkrete Straftaten und deren Verhinderung: Drogendealerringe, Waffenschmuggel etc. Die Aktionszeiträume sind begrenzt und auf ein klares Ziel hin ausgerichtet: Beweismittel zu beschaffen, die zur Überführung der Täter führen und damit die V-Leute überflüssig machen. Die für diese Anwendungsszenarien entwickelten Richtlinien zum Einsatz von V-Leuten und verdeckten Ermittlern versagen aber offenbar im Feld politischer Gruppierungen. Dort sind die Entwicklungen langfristiger und oft unterhalb der Ebene direkt strafbarer Handlungen. Die Wirkung der Aktivitäten, die vom Staat bezahlte V-Leute dort unternehmen, ist aber langfristig verheerender als ein zum Schein eingefädelter Drogendeal, um den Händlerring hochgehen zu lassen. Denn das seelische Gift wirkt weiter und der Verfassungsschutz selbst hat als Informationssammelstelle ohne polizeiliche Befugnisse weder die Mittel noch die Absicht, dort etwas „hochgehen“ zu lassen.
In dem Zusammenhang ist noch einmal mit Nachdruck festzustellen: Die NPD wäre möglicherweise längst erfolgreich verboten, wenn nicht die zahlreichen V-Personen in den Organisationsstrukturen das verhindert hätten. In der Logik des Bundesverfassungsgerichtes sind nämlich deren Handlungen eben nicht mehr der NPD zuzurechnen, sondern gelten als Handlungen des Staates, in dessen Auftrag sie formal gesehen tätig sind.
Darf der Staat solchermaßen gegen seine Prinzipien handeln? Und warum soll die Kirchen das interessieren? Weil sie sonst auch nicht zögern, ihre Prinzipien in die politische Diskussion einzubringen. Zum Beispiel im Blick auf die Schwangerenkonfliktberatung formuliert die katholische Kirche aufgrund ihrer Morallehre harte Prinzipien. Weil die Tötung von Leben – auch von ungeborenem Leben – in jedem Fall schweres Unrecht sei, dürfe sich die Kirche nicht daran mitschuldig machen. Deshalb dürfe sie nicht einmal Frauen beraten, wenn diese Beratung zur Straffreiheit einer Abtreibung führen kann. Das Leid der betroffenen Frauen wird in Kauf genommen, um moralisch eine saubere Weste zu behalten.
Im Blick darauf, dass der demokratische Staat durch den massiven Einsatz von V-Leuten faktisch struktureller Mittäter beim Aufbau von neonazistischen Strukturen geworden ist, dass er Menschen bezahlt, die zum Völkerhass aufstacheln, die Kampagnen gegen Ausländer organisieren und mörderische Terrorzellen hervorbringen, sind die Kirchen bislang zu leise geblieben. Wäre es nicht ihre Aufgabe, hier ebenso die Gewissen der politisch Verantwortlichen zu schärfen?
Unmoralische Spitzelgewinnung
Auf das Problem, wie die Konstruktion und Ausnutzung von persönlichen Zwangslagen zur Spitzelgewinnung durch den Geheimdienst einerseits und der geforderte Vorgang der gezielten Täuschung und Verrates seiner Freunde durch die V-Person andererseits moralisch zu bewerten sei, ist dabei noch gar nicht eingegangen.
Wie ist z.B. der Fall der Angelika zu beurteilen, die aus der rechten Szene aussteigen wollte, aber vom Verfassungsschutz erpresst wurde: „Entweder Du arbeitest für uns, oder Deine Kinder sind weg.“ Im Auftrag des Verfassungsschutzes trat sie in die NPD ein, gründete einen örtlichen Parteiverein, co-finanzierte ihn mit Staatsmitteln und verbreitete über ein Internetradio zwei Jahre lang Gewaltaufrufe und Hetze gegen Juden und Ausländer. Als schließlich ein Einsatzkommando der Polizei ihre Wohnung stürmte, war es für sie wie eine Befreiung: endlich hat das doppelte Spiel ein Ende, das sie in der Ideologie verhaftete, mit der sie eigentlich innerlich längst abgeschlossen hatte. Dass sie sich dennoch vor Gericht für die Taten verantworten musste, die sie im Rahmen ihrer Informantentätigkeit zu begehen gezwungen wurde, mag juristisch korrekt sein – sie hat es aber nicht verstanden. „Die haben mich fallengelassen“.8
Darf man zur Abwendung eines Schadens ein Unrecht begehen? Heiligt der Zweck die Mittel? In der Regel nein. Aber selbst wenn man diese Fragen im Einzelfall bejahen sollte, so sind doch sehr strenge Maßstäbe an die Prüfung der Verhältnismäßigkeit anzusetzen. Die zutage getretenen Fakten lassen erkennen, dass moralische „Kosten“ und Nutzen beim Einsatz von V-Leuten beim Verfassungsschutz in einem ungünstigen Verhältnis zueinander stehen. Wenn aktuell in der Politik über die künftigen Strukturen einer Institution zur Sicherung der Demokratie beraten wird, sollte es ein kirchlicher Beitrag sein, auf diese Problemlagen deutlich hinzuweisen.