Wer schützt die Verfassung?

Bürgerbespitzelung, „Landesverrat“ und die Verdienste von netzpolitik.org

Wer schützt die Verfassung? Der Skandal um das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) und das Blogportal „Netzpolitik.org“ ist eine Geschichte aus dem „Sommerloch“, die schon längst vor den Aufregungen um Flüchtlingsansturm und Terroranschläge aus den Nachrichtenspalten verschwunden war. Deren Hintergründe verdienen es aber, dennoch im Bewusstsein und in der öffentlichen Diskussion gehalten zu werden, denn sie sind für die Bewahrung der Demokratie in Deutschland von grundlegendem Interesse.

Einführung: Edward Snowden

Das Gesicht des jungen Amerikaners Edward Snowden ist weithin bekannt. Er ist zu einem Symbol für die Freiheit der Bürger vor geheimdienstlicher Bespitzelung geworden. Seit 2013 befindet er sich im Exil in Russland. Sein bisheriges Leben, seine Freunde, seine Freiheit hat er aufgegeben, damit wir unsere Freiheit behalten können. Sein Gegner, der ihn sogar mit dem Tod bedroht hat1, ist kein religiös fanatisierter Schurkenstaat in der arabischen Wüste, sondern die Mutter der Demokratie - die USA. Sein Verbrechen war, dass er die Verbrechen einer Behörde mit Hilfe der Medien ans Licht gebracht hat – einer Behörde, die nominell im Auftrag einer demokratisch gewählten Regierung arbeitet und den Auftrag hat, die Demokratie zu verteidigen. Faktisch fügt sie aber durch ihre Methoden nicht allein ihrem Land, sondern auch in Europa den Bürgern Schaden zu.2

Kurze Geschichte der Kryptografie

Früher, im analogen Zeitalter, war Verschlüsselung nahezu ausschließlich im militärischen Gebrauch. Armeen und Geheimdienste codierten ihre Depeschen, damit der Gegner und seine Spitzel sie nicht lesen konnten. Das Knacken von Verschlüsselungen gehörte ebenso zu deren besonderen Kompetenzen. Für Bürger genügte der Briefumschlag, und die Post führte noch keine Listen mit Absender und Empfänger aller transportierten Briefe. Mit der digitalen Ära änderte sich dies grundlegend. In dem Maß, wie private Alltagskommunikation über digitale Netze abgewickelt wird, müsste auch deren Verschlüsselung eigentlich zu den normalsten und selbstverständlichsten Erfordernissen gehören. Dagegen wehrten sich aber die Geheimdienste von Anbeginn mit ganzer Kraft. Verschlüsselung galt lange Zeit noch als Waffe und fiel unter entsprechende Exportverbote. Der Quellcode des PGP-Verfahrens 3musste daher auf Papier aus den USA gebracht und anderswo wieder von Hand eingetippt werden. Edward Snowden enthüllte, dass der amerikanische Inlandsgeheimdienst „National Security Agency“ (NSA) in bisher nicht vorgestelltem Ausmaß die Überwachung der gesamten Internetkommunikation betrieben hat. Dass auch das Handy der Kanzlerin abgehört wurde, ist vor diesem Hintergrund eher banal. Zudem haben die NSA versucht, mit Druck auf die Standardisierungsgremien die Entwicklung und Verbreitung von effektiver und starker Verschlüsselung zu hintertreiben, indem z. B. Einfluss auf die dafür wichtigen Zufallszahlengeneratoren genommen wurde. Auf diese Weise wurden global für die Industrie wichtige Schlüsseltechnologien behindert, die z.B. auch Firmen zur Abwehr von Wirtschaftsspionage benötigen, allein damit die Geheimdienste die Kontrolle behalten können. Wo so etwas im Verantwortungsbereich demokratischer Regierungen geschieht, stimmen die Prioritäten nicht und die Kontrollstrukturen haben versagt.

Netzpolitik.org

In Deutschland gibt es nun ein Internet-Blog, in dem junge internetaffine Menschen die Entwicklung rings um das Netz der Netze einschließlich der jeweiligen politischen Rahmenbedingungen aufmerksam beobachten und kommentieren. So wurde von ihnen u.a. der NSA-Skandal thematisiert und problematisiert, dass der Generalbundesanwalt Harald Range keine Ermittlungen gegen die Geheimdienste eingeleitet hat, die in offensichtlich rechtswidriger Weise spionierten. Am 25. Februar 2015 veröffentlichte das Blog unter der Überschrift „Geheimer Geldregen: Verfassungsschutz arbeitet an ‚Massendatenauswertung von Internetinhalten‘“ einen Ausschnitt aus dem geheimen Haushaltplan des Bundesamtes für Verfassungsschutz von 2013. Daraus geht hervor, dass 2,7 Mio. Euro aus Steuermitteln bereitgestellt wurden, um „ein System zur Gewinnung, Verarbeitung und Auswertung von großen Datenmengen aus dem Internet“ zu entwickeln. Dies sei notwendig, um Massendaten auswerten und „bislang unbekannte und nicht offen erkennbare Zusammenhänge zwischen einschlägigen Personen und Gruppierungen im Internet“ feststellen zu können. Am 15. April wurden weitere Details zu der neuen Arbeitsgruppe des BfV mitgeteilt: Demnach werden 75 neue Vollzeitstellen eingerichtet. Diese sollen Chats und Facebook überwachen, Bewegungsprofile und Beziehungsnetzwerke erstellen sowie „verdeckte Informationen erheben“.

Die Veröffentlichung schmeckte dem Präsidenten des BfV, Hans-Georg Maaßen, nicht und er stellte im Juli Strafanzeige, um die Informanten des Blogs herauszufinden. Diesen Fall zog der Generalbundesanwalt an sich und ermittelte nun gegen die Betreiber von Netzpolitik.org wegen des Vorwurfes des „Landesverrats“ (§94StGB). 

Pressefreiheit in Gefahr

Das ist nun ein schweres Geschütz und in der konkreten Situation reichlich unpassend. Die gegen Spione fremder Mächte gedachten Regelungen auf die Blogger anwenden zu wollen wirkt umso befremdlicher, als derselbe Generalbundesanwalt in der Bespitzelung der Regierung keinen Rechtsbruch erkennen wollte. Der Vorgang wurde über Twitter publik. Mit dem Hashtag #Landesverrat kam es zu einer Welle der Solidarisierung mit den Bloggern. Schließlich wurde mit dieser Ermittlungsrichtung auch die Pressefreiheit angegriffen. Dies gilt nicht nur abstrakt auf dem Weg der Einschüchterung, sondern ganz real, denn Ermittlungen mit diesem Tatvorwurf ermöglichen erweiterte Überwachungsmaßnahmen nach §100a der Strafprozessordnung und somit schwere Eingriffe in das Redaktionsgeheimnis und den Quellenschutz. Deshalb gab es eine breite Unterstützung aus Medienkreisen und eine umfangreiche Medienberichterstattung zu dem Verhalten des Generalbundesanwaltes. Im Ergebnis führte dies zu dessen Entlassung durch Bundesjustizminister Heiko Maas. 

Anlass vernebelt 

So sehr es zu begrüßen ist, dass die Medienberichterstattung die Blogger unterstützt hat, so seltsam fällt auf, dass der eigentliche Anlass des Skandals in der Schelte des Generalbundesanwaltes unterging. Das BfV rüstet sich massiv aus, um in NSA-Manier künftig in automatisierten Verfahren Verkehrsdaten, Kommunikations-Metadaten, Bewegungsprofile und Internetaktivitäten der Bundesbürger anlasslos zu überwachen. Diese Daten werden miteinander verknüpft, um daraus auswertbare Profile zu erstellen. Solches stellt einen Eingriff in die Privatsphäre dar, der dem Geist des Grundgesetzes widerspricht und auch von der gegenwärtigen Rechtslage kaum gedeckt sein dürfte. In seiner Entscheidung vom 2. März 2010 hatte das Bundesverfassungsgericht die Vorratsspeicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten strengen Beschränkungen unterworfen. Im Blick auf die Geheimdienste wird in dem Urteil ausgeführt: „Es gibt keinen Grund, warum diese Anforderungen für die Aufgabenerfüllung der Nachrichtendienste nicht gelten sollten. […] Eine besondere Belastungswirkung solcher Eingriffe gegenüber den Bürgern liegt im Übrigen darin, dass nicht nur der jeweilige Eingriff in das Telekommunikationsgeheimnis als solcher in der Regel verdeckt geschieht, sondern praktisch die gesamten Aktivitäten der Nachrichtendienste geheim erfolgen. Befugnisse dieser Dienste zur Verwendung der vorsorglich flächendeckend gespeicherten Telekommunikationsverkehrsdaten befördern damit das Gefühl des unkontrollierbaren Beobachtetwerdens in besonderer Weise und entfalten nachhaltige Einschüchterungseffekte auf die Freiheitswahrnehmung.“ Eine Verwendung der Telekommunikationsverkehrsdaten zur nachrichtendienstlichen Vorfeldaufklärung scheidet darum nach Urteil des Bundesverfassungsgerichtes in vielen Fällen aus.4 Im offensichtlichen Gegensatz zu diesen Ausführungen sind die Geheimdienste unter dem Label der „Terrorabwehr“ nun dennoch eifrig bemüht, ihre Befugnisse auszuweiten und erklären mittelbar jeden Bürger zum potenziell gefährlichen Terroristen. Die Folgen, die eine solche permanente staatliche Dauerüberwachung bis in Bereiche der privaten Lebensführung hinein entwickelt, sind in ihren Auswirkungen auf das Lebensgefühl und die Demokratieentwicklung in der gesellschaftlichen Diskussion darüber noch zu wenig im Blick. 

Privatsphäre als Grundrecht

Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Europäische Gerichtshof haben in dieser Hinsicht in jüngster Zeit eindeutige und wegweisende Grundsatzurteile gesprochen. Diesen scheint die Politik offensichtlich aber nur ausgesprochen zäh und widerwillig folgen zu wollen – zu Lasten der Bürger. Die Privatsphäre ist ein Bereich, der gegen den Zugriff des Staates geschützt sein muss - und Geheimdienste sind Teil des Staatsapparates, zudem ein sehr intransparenter Teil. 

Was bedeutet es, wenn ich weiß, dass sämtliche eMails nach bestimmten Schlüsselwörtern gefiltert werden, die ich aber nicht kenne? Bekomme ich in den USA noch ein Visum, wenn ich irgendwann mal einen Satz geschrieben habe, den die Software falsch verstanden hat?

Was bedeutet es für die Teilnahme an Demonstrationen, wenn auch ohne polizeiliche Funkzellenabfrage mein Bewegungsprofil ständig vom Geheimdienst ausgewertet wird?

All diese Überlegungen mögen abstrakt wirken und haben derzeit keine starke Lobby, da wir (noch) in dem Gefüge eines geordneten Rechtsstaates leben. Viele Bürger sagen sich: „Ich habe nichts zu verbergen, und wenn es meiner Sicherheit und der Ergreifung von Terroristen dient, sollen sie mal machen.“ 

Das ist aber definitiv zu kurz gedacht. Was geschieht, wenn z. B. rechtsnationalistische Bewegungen in Zukunft gesellschaftliche Mehrheiten bekommen, die ihnen den Zugriff auf Teile des Staatsapparates geben? Wer definiert dann, was ein „Terrorist“ ist? Etwa jeder, der nicht dem „Volkswohl“ dient oder sich für typisch „linke“ Themen wie globale Gerechtigkeit engagiert? Ermutigt solche Überwachung dann die Bürger, sich politisch zu organisieren, oder vermeiden sie dann lieber solche Aktivitäten und suchen die Anpassung mit Verzicht auf verräterische Sozialkontakte? Ein latenter Druck zur Konformität ist automatisch und unvermeidlich mit jeder Form der Überwachung verbunden. Der freiheitlichen Entfaltung der Persönlichkeit steht dies entgegen. Schon jetzt ist es so, dass diejenigen, die starke Verschlüsselung benutzen um z.B. die Privatsphäre ihrer eMail-Korrespondenz zu bewahren, die besondere Aufmerksamkeit der Geheimdienste auf sich ziehen. Wer in sozialen Netzwerken weniger von sich Preis gibt, als die meisten anderen Nutzer, macht sich schon zunehmend verdächtig. Wollen wir uns von Terroristen dazu bringen lassen, die Grundlagen unserer freiheitlichen Gesellschaft selbst aufzugeben und auszuhöhlen? Wollen wir das wirklich?

Programmiertes Vorurteil

Das Ministerium für Staatssicherheit der DDR hat mit enormem personellen Aufwand eine Überwachung von weiten Teilen der Bevölkerung betrieben. Die technische Revolution führt dazu, dass eine umfassendere Überwachung mit viel weniger Personal möglich wird. Zuverlässiger sind die durch Software-Algorithmen generierten Persönlichkeitsprofile nicht unbedingt, denn sie transportieren programmierte Vorurteile. Wie ein „Normalbürger“ agiert und was möglicherweise gefährliche Abweichung von diesem Verhalten darstellt, ist in Software codiert. Die Vielfalt des Lebens kann das naturgemäß nicht abbilden. 

Diese Bedenken gelten auch dann, wenn der Geheimdienst ausschließlich von vollkommen integeren Personen nach besten rechtsstaatlichen Grundsätzen geführt würde, denn sie sind struktureller Natur. Der NSU-Skandal zeigt allerdings deutlich, dass blindes Vertrauen in die Arbeit der Geheimdienste nicht angebracht erscheint. Eine ernsthafte politische Debatte zu diesem Thema steht aber noch aus. 

 


1 Der frühere Direktor der CIA, James Woolsey, forderte eine Anklage Snowdens wegen Hochverrats sowie seine Hinrichtung, sollte er verurteilt werden, http://heise.de/-2070809

2 Details dazu auf http://heise.de/-2214943 sowie https://de.wikipedia.org/wiki/Globale_Überwachungs-_und_Spionageaffäre

3 Pretty Goot Privacy - ein bis heute sicheres Verfahren zur verschlüsselten eMail-Kommunikation.

4 BVerfG, Urteil vom 2. 3. 2010, 1 BvR 256/08 Absatz 233f.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

Artikel-URL: https://confessio.de/artikel/978