Die Kirchen als Unterstützer der Demokratie
Die Demokratie ist derzeit unter Druck. Was kann die spezifische Rolle der Kirchen in dieser Situation sein? Ist es eine kirchliche Aufgabe, sich an Demonstrationen zu beteiligen? Wo sind die Schnittmengen von Kirche zum demokratischen Rechtsstaat? Zu diesen Fragen hatte der Evangelische Bund im Rahmen seines online-Formates #aufgetischt den ehemaligen Bundestagspräsidenten und engagierten Katholiken Dr. h.c. Wolfgang Thierse zu Gast.
Krisen und Enttäuschungen
Mit wenigen Strichen skizzierte Thierse zu Beginn seiner Ausführungen die besonderen Spannungen und Herausforderungen der Gegenwart: Der Krieg Putins gegen die Ukraine und der Krieg im Nahen Osten bedrohen Frieden und Sicherheit auch anderswo. Die beschleunigte Globalisierung bewirkt eine Entgrenzung auf vielen Ebenen. Migrationsbewegungen machen auch unser Land ethnisch, religiös und weltanschaulich pluraler – mit viel Konfliktpotenzial. Was fortschreitende Digitalisierung und Künstliche Intelligenz an gravierenden Veränderungen bringen wird, können wir allenfalls erahnen. Über all dem steht die fundamentale Aufgabe der ökologischen Herausforderung einer Transformation der gesamten Wirtschaft weg vom fossilen Zeitalter im Kontext der Klimakrise… Es gibt also jede Menge Probleme und viel zu bestehen – individuell und kollektiv.
Diese Herausforderungen erzeugen Gefühle von Verunsicherung und Ängste, eine starke Suche nach Identität und Sicherheit. Die Gewinner und Verlierer der Veränderungen sind ungleich verteilt, auch zwischen Ost und West.
Immer wieder entstehen Erwartungen an „die“ Politik, sie möge das Wunder vollbringen und schnelle und schmerzlose Lösungen für all die Probleme liefern. Weil sie das nicht kann – erst recht nicht in einer Demokratie, wo Entscheidungen langsam gehen und von Kompromissen durchzogen sind – wachsen Verachtung und Politikverdrossenheit. Damit schlägt die große Stunde der Populisten. Insbesondere in Ostdeutschland, wo die Menschen bereits viele Veränderungen durchzustehen hatten, fallen deren Verlockungen auf fruchtbaren Boden, wie u.a. Wahlumfragen belegen.
Was ist das „Wir“?
Die plurale Gesellschaft ist ihrem Wesen nach von Vielfalt geprägt. Das ist aber keine Idylle. Im Gegenteil: Solche Unterschiedlichkeit steckt voller Konfliktpotenzial. Die gewachsene Diversität stellt die Frage nach dem gesellschaftlichen Zusammenhalt. Wie entsteht ein gemeinsames „Wir“ in der Gesellschaft? Diversität entwickelt sich in einer entgrenzten Welt von selbst. Sie erzeugt aber nicht von selbst Gemeinschaft und Zusammenhalt. Es braucht also das Bemühen darum, Gemeinsamkeiten bewusst zu machen und zu stärken. Das wird umso wichtiger, je mehr Populisten die Polarisierungen vorantreiben.
Solche Gemeinsamkeiten bestehen zunächst in äußerlichen Bereichen: In der gemeinsamem Sprache, den Beziehungen, die Menschen zueinander haben im Arbeitsprozess und als Konsumenten. Auch die Anerkennung von Recht und Gesetz schafft eine Verbindung (Stichwort: „Verfassungspatriotismus“) und das Bemühen um soziale Gerechtigkeit ist eine wichtige Anstrengung demokratischer Politik, die dem Zusammenhalt dient.
Das reicht aber nicht. Es braucht weiterhin gemeinsame Maßstäbe und Normen. Es geht um eine Verständigung darüber was zu verstehen ist unter „Freiheit“ und „Gerechtigkeit“, unter „Solidarität“ und was ein sinnvolles und gutes Leben ausmacht. Es geht um eine gemeinsame Vorstellung von Menschenwürde sowie Toleranz und Respekt gegenüber der Person. Dabei spielt auch eine Rolle, auf welche geschichtlich geprägten kulturellen Normen, Erinnerungen und Traditionen man sich berufen will. All dies ist nicht unmittelbar politisch, bildet jedoch das ethische und kulturelle Fundament des Zusammenlebens.
Verantwortung für das Fundament
Dieses Fundament ist aber nicht ein für alle Mal gegeben. Es wird getragen von den Bürgerinnen und Bürgern der Gesellschaft und muss in jeder Generation neu erarbeitet werden. Verantwortlich dafür sind die kulturellen Kräfte der Gesellschaft – und unter diesen auch die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften - mithin auch die Kirchen in besonderer Weise. Christen und Kirchen haben also Teil an dieser Verantwortung. Nicht allein und nicht von oben herab, sondern als Dialogpartner in einer pluralistischen Gesellschaft. Die Kirchen sollten sich dieser Aufgabe nicht entziehen.
Von Gott reden
Dabei kann die Kirche aber nur ihren eigenen substanziellen Beitrag einbringen, wenn sie bei sich bleibt. Von Gott und vom Glauben zu reden ist ihre ureigene Aufgabe. Würde sie darauf verzichten, dann würde sie sich nicht komplett unwichtig machen, aber sie würde dann nur eine Moralagentur unter anderen werden. Aufgabe der Kirchen ist es aber, daran zu erinnern, dass Gott da ist und deshalb der Mensch nicht Gott ist. Das mag eine Kränkung des menschlichen Selbstbewusstseins sein. Aber sie ist wichtig. Dieser Glaube bewahrt vor der Selbstüberschätzung, alles selbst leisten zu können und zu müssen, es schützt vor einer illusionären Leistungsideologie und einem selbstherrlichen Verständnis menschlicher Autonomie. Der Glaube bewahrt auch vor Zynismus und Verzweiflung, die ansonsten aus dem Scheitern solch überzogener Selbstansprüche kommen. Gelassenes Selbstbewusstsein und hoffnungsvolles Vertrauen sind die Grundzüge eines Glaubens, den zu bezeugen der Dienst der Kirche auch und gerade an der Politik sein sollte. Die moderne Gesellschaft ist auf diese unmoderne Ressource angewiesen. Die Kirche ist eine Institution, in der das Unverfügbare mit dem Mut zu Demut und Selbsttranszendenz und dem Angebot überschießender Hoffnung verbunden wird. In ihr wird die Tradition von Liebe, Gerechtigkeit und Versöhnung weitergetragen. Sie ist eine Schatzkammer der Erinnerung und eine Erzählgemeinschaft von Geschichten von gelingendem Leben. Sie ist ein Begegnungs- und Resonanzraum von Menschen, die zwar sozial und ethnisch verschieden, aber vor Gott gleich und darum gemeinsam sind. In der Kirche werden Menschen als hoffende und bedürftige Menschen angesprochen – und darin sind sie fundamental gleich.
Christen engagieren sich deutlich mehr ehrenamtlich – auch über die Kirche hinaus. Der säkulare Staat wäre dumm, wenn er dieses Potenzial nicht fördern würde.
Die angefochtene Demokratie ist die Grundlage der Religionsfreiheit. Schon deshalb haben Christen auf der Seite der Demokratie zu stehen. Wolfgang Thierse schloss seine bemerkenswerten Ausführungen mit einem Zitat von Alexis de Tocqueville: „Der Despotismus kommt ohne Religion aus. Die Demokratie nicht.“
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