Gemeinde = Kirche ?
In den letzten Jahrzehnten sind an vielen Orten neue, unabhängige Gemeinden gegründet worden, die keiner übergeordneten Kirchenorganisation angehören, sondern ihre Belange selbständig regeln. Eine solche Organisationsstruktur wirft theologische Fragen auf. Wie ist das Verhältnis von „Gemeinde“ und „Kirche“? Sind diese Neugründungen nur „Gemeinde-“ oder nicht auch „Kirchen“gründungen? Welche Folgen hat die Gründung unabhängiger Gemeinden für die Einheit des Leibes Christi? Ist eine äußere, organisatorische Verbindung verschiedener Gemeinden überhaupt notwendig, oder genügt eine geistige, geglaubte Einheit im Bekenntnis zu Jesus als Erlöser vollkommen? Wo verlaufen die Grenzen der Gemeinde und der Kirche? Wer gehört dazu? Mit diesen und weiteren Fragen beschäftigten sich die Teilnehmer der 4. Begegnungstagung des Evangelischen Bundes Sachsen zwischen Leitern freier Gemeinden in Sachsen und Pfarrern der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens, die vom 29. bis 30. 10. 2007 in Meißen stattfand. Die nachfolgenden Ausführungen sind keine vollständige Zusammenfassung dieser Tagung, sondern durchaus subjektive Betrachtungen, die sich aus den Gesprächen ergeben haben.
Die eine Kirche in vielen Gemeinden
Die Aussprache hat gezeigt, dass viele grundlegende Aussagen über das Wesen und den Auftrag der Gemeinde Christi überhaupt nicht strittig sind. Auffällig war jedoch eine deutlich verschiedene Akzentuierung: Landeskirchliche Pfarrer sind es gewohnt, stärker von der Kirche als verbindlicher übergemeindlicher Struktur her zu denken und die Ortsgemeinde als konkrete Ausprägung dieser Kirche zu verstehen. Die Kirche ist dabei immer mehr als die Gemeinde vor Ort. Diese ist Teil dieser Kirche und bildet die Kirche, die natürlich ohne die Gemeinden nicht bestehen könnte. Aber die Kirche geht noch spürbar darüber hinaus: sie unterstützt und reguliert das Leben in den Gemeinden und übernimmt gemeinsame Aufgaben, von der Ausbildung über die Verwaltung bis hin zur Vertretung in der Öffentlichkeit und gegenüber dem Staat.
Aus der Perspektive der Leiter freier Gemeinden konzentriert sich das Erleben und die theologische Reflexion zunächst vorwiegend auf die konkrete Ortsgemeinde. Sie ist die Versammlung der Gläubigen, in ihr findet das Gemeindeleben statt. Vielen Gemeindeleitern fiel es schwer, über Kirche in Absetzung von der Ortsgemeinde zu sprechen. Gemeinde und Kirche fallen für sie faktisch zusammen.
Biblische und kirchengeschichtliche Perspektiven
In ihrer Betonung der Einzelgemeinde können sich die Vertreter der freien Gemeinden in gewisser Weise auch auf Luther berufen, der im Großen Katechismus „Kirche“ als ein undeutliches Wort bezeichnet hat. Statt dessen sprach auch Luther fast durchweg von Gemeinde, um im Gegenüber zur römischen Konzentration auf Hierarchie und Kirchengebäude den ursprünglichen Charakter der Kirche als Versammlung (= griechisch: Ekklesia) der Christen wieder zum Ausdruck zu bringen. Seit dem II. Vatikanischen Konzil hat auch die römisch-katholische Kirche die Bedeutung der Ortsgemeinde wieder neu entdeckt.
Im Neuen Testament wird der Begriff Ekklesia gleichermaßen für die Ortskirche wie für die Gesamtkirche verwendet. Theologisch besteht zwischen beiden auch kein grundlegender Unterschied, sondern die Differenz ist eher soziologisch: die Gemeinde ist die Kirche am Ort, die Kirche ist die die Gemeinden verbindende und übergreifende Struktur, erklärte Prof. Kühn in seinem Referat auf der Tagung. Die eine, heilige, katholische (= allgemeine) und apostolische Kirche, die wir im Glaubensbekenntnis bekennen, ist ein Werk des Heiligen Geistes. Zu ihr gehören alle Christen, egal wo sie leben, indem sie auf Christus hören.
Kirche und Institution
Zu dieser Kirche des Glaubens gehören allerdings von Anfang an und notwendigerweise auch institutionelle Momente. Jede menschliche Gemeinschaft, die etwas gemeinsam auf Dauer tun will, muss sich institutionalisieren. Das gilt für das Tischgebet wie für die Ehe, für die Staatsverfassung wie für den Sonntagsgottesdienst. So gibt es auch im Neuen Testament bereits institutionelle Elemente: den Zwölferkreis, die Siebzig, die Gestalt des Petrus, das Abendmahl und die Taufe, sowie bald die Regelung der Ämter und ihrer Nachfolge. Diese Institutionen haben den Sinn, der Kirche ihre erkennbare Kontur zu geben, sie vor Beliebigkeit zu bewahren und der Einheit in Glaube und Leben zu dienen - sowohl am einzelnen Ort als auch überregional in der Verbindung der Gemeinden. Wer Kirche ohne Institution will, hat das Wesen von Kirche nicht verstanden.
Mitgliedschaft und Grenzen
Was bestimmt die Mitgliedschaft in der Kirche Jesu Christi? Die Frage ist schwerer zu beantworten, als es zunächst scheinen mag, denn die formale Mitgliedschaft in einer spezifischen Kirchenorganisation eignet sich kaum als Kriterium. Ein breiter Konsens lässt sich darin finden, dass Menschen durch die Taufe zu Gliedern der Kirche werden. Allerdings macht das Leben die Zuordnung auch hier kompliziert: Es gibt Getaufte, die nicht glauben, und es gibt Glaubende, die nicht getauft sind. Welche Rolle spielt dabei der Glaube? Gewiss wird man den Glauben nicht als unwichtig bezeichnen können. Aber wer kann Glauben messen? Die Unterscheidung einer „sichtbaren“ (Gemeinschaft der Getauften) von einer „unsichtbaren“ Kirche (Gemeinschaft der Glaubenden) hilft nicht wirklich weiter, denn beide existieren nicht isoliert voneinander. Schließlich ist die Kirche auch in ihrer besten Form nicht das Reich Gottes und besteht aus lauter begnadigten Sündern.
Einheit der Kirche(n)
Die Einheit der Christen untereinander ist in vielfacher Hinsicht gefährdet. Verschiedene Frömmigkeitsstile, verschiedene kulturelle Traditionen, verschiedene Überlieferungsstränge haben nicht nur zur Ausbildung verschiedener Formen des Christentums geführt. Oft sind Christen gegeneinander aufgestanden und haben sich gegenseitig das rechte Christsein abgesprochen. Die Spaltung der Christen in verschiedene Kirchen, die nicht mehr in Gemeinschaft miteinander stehen, ist ein bleibendes Ärgernis und ein Problem für die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses. Die Einheit der Christen ist aber sowohl Gabe als auch Aufgabe: In der Beziehung zu Christus ist eine grundlegende Einheit bereits vorgegeben. Die Aufgabe besteht darin, ihr auch praktisch zu entsprechen. Schon Jesus selbst hat eindringlich für die Einheit der Christen gebetet, weil daran ihre öffentliche Glaubwürdigkeit hängt (Joh. 17). Von dieser Aufgabe, nach mehr sichtbarer Einheit zu suchen, kann sich kein Christ frei machen, der sich ernsthaft auf Jesus beruft. Die Erfahrungen der ökumenischen Bewegung haben gezeigt, dass wahre Ökumene keine Abstriche von der Wahrheit beinhalten muss, sondern im gemeinsamen Hören auf die berechtigten Anliegen der anderen Christen kann ein gemeinsames Wachsen auf Christus hin geschehen, das beide Partner näher zu Christus und damit auch näher zueinander bringt.
Formen der Einheit
Welche Form muss diese Einheit haben, damit sie dem biblischen Anliegen gerecht wird? Welche theologische Bedeutung hat die organisatorische Einheit in einer Kirchenstruktur? Folgt man den Bekenntnisschriften der Evangelischen Kirche, ist dies zunächst ein nachgeordnetes Thema. Im Abschnitt 7 des Augsburger Bekenntnisses wurde dargelegt, dass die rechte Verkündigung des Evangeliums und die ordentliche Verwaltung der Sakramente die Basis für die Kirche bilden. Weitere Fragen, wie z.B. die Ämter oder die Kirchenorganisation können hingegen verschieden geregelt sein. Für die Ökumene hat diese Einstellung bereits konkrete Folgen gezeigt: in der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (früher: Leuenberger Kirchengemeinschaft) sind viele Kirchen zusammengeschlossen, die in diesen Grundfragen miteinander übereinstimmen und haben gegenseitig Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft erklärt. Das Modell der Erklärung von Kirchengemeinschaft gemäß der Leuenberger Konkordie ist ohne Frage ein wichtiger und guter Prozess zu mehr ökumenischer Gemeinschaft der Kirchen. Besser wäre es allerdings auch aus protestantischer Sicht, wenn die Einheit, die hier mühsam wieder gewonnen wird, gar nicht erst zerbrochen wäre. Die Spaltung der Kirche in verschiedene, voneinander unabhängige Denominationen ist immer ein Ärgernis, mit menschlicher Schuld verbunden und eine Schwächung des Leibes Christi.
Gewissen oder Kirche?
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Wie biblisch ist die verbreitete protestantische Überzeugung, im Konfliktfall das eigene Gewissen stets über die Bindung an die bestehende Kirchenorganisation zu setzen? Luthers trotziges „Hier stehe ich und kann nicht anders“ vor dem Kaiser in Worms ist - ungeachtet der historischen Fragwürdigkeit des Ausspruches - zu einem Markenzeichen protestantischen Selbstbewusstseins geworden. Zugleich bildet dieser Satz aber auch gewissermaßen die Sporen des protestantischen Spaltpilzes, der unter (un-)günstigen Bedingungen wuchert und ständig neue Abspaltungen entstehen lässt, weil man meint, die eigene Wahrheitserkenntnis nicht in der bisherigen Kirchenorganisation ausdrücken zu können. Die auf diese Weise im Laufe der Jahre und mit vielen Konflikten entstandene Vielfalt an selbständigen Kirchen, Freikirchen und Gemeinden erfährt in jüngster Zeit noch einmal eine Vervielfachung, weil das Bewusstsein für den Wert der Einheit der Kirche verloren geht und immer geringfügigere Anlässe zur Gründung neuer Denominationen führen. In manchen Fällen ist überhaupt kein Gewissenskonflikt mehr damit verbunden, sondern es werden Effektivitätsgründe (z.B. beim „Church Planting“) angeführt oder eine neue freie Gemeinde wird gegründet, weil man sich in keiner der vier am Ort bestehenden Gemeinden des eigenen Frömmigkeitsstiles spontan wohl gefühlt hat.
Paulus als Gemeindegründer
Das Vorbild des großen neutestamentlichen Gemeindegründers Paulus lässt sich dafür aber nicht in Anspruch nehmen. Nun ist Paulus durchaus seinem Gewissen treu geblieben. Er scheute auch nicht die Auseinandersetzung mit dem damaligen „Kirchenfürsten“ Petrus, wie der Konflikt im Galaterbrief (Gal 2) deutlich zeigt. Dennoch hat er einen Weg gefunden, seine Überzeugungen und seine Form der Mission in bleibender Verbindung mit der Kirchenorganisation, der er angehörte, zu praktizieren. Er hat sich nicht von der Urgemeinde getrennt, kein eigenes freies Missionswerk eröffnet, keine vollkommen unabhängigen Freikirchen überall in Kleinasien gegründet, sondern großen Wert auf seine bleibende Verbindung mit den Aposteln in Jerusalem gelegt – obwohl sie eine andere theologische Linie vertraten als er. Diese Verbindung bestand nicht nur „irgendwie“ ideell in einem gemeinsamen Bezug auf die Wurzeln des christlichen Glaubens, sondern durchaus auch sehr irdisch und organisatorisch.
Äußeres und sichtbares Zeichen dieser Verbindung war die von Paulus mit großem persönlichen Engagement durchgeführte Kollektensammlung für Jerusalem. Einheit kann sich folglich auch in solch scheinbar äußerlichen Dingen wie Finanztransfers ausdrücken. Die Verbindung seiner neu gegründeten Gemeinden mit der „Kirchenleitung“ in Jerusalem war ihm so wichtig, dass er es sich nicht nehmen ließ, trotz der Lebensgefahr und auch gegen den Rat seiner Freunde die Kollekte persönlich in Jerusalem zu überbringen. Offenbar war für Paulus die Einheit der Kirche ein solch elementares Anliegen, dass er bereit war, dafür sogar in den Tod zu gehen. Diese Tatsache sollte zu denken geben. Allerdings gehörte dazu auch die Entscheidung des Apostelkonzils (Apg. 15), Paulus in seinem, von den anderen abweichenden Stil innerhalb dieser Kirche wirken zu lassen. Das biblische Vorbild zeigt also beides: einerseits die Möglichkeit, verschiedene Wege der Evangeliumsverkündigung innerhalb einer Kirchenorganisation zuzulassen, andererseits auch den starken Willen, die Einheit dieser Kirche über alle Probleme hinweg zu bewahren. Die Entstehungsgeschichten der verschiedenen an der Tagung beteiligten Gemeinden zeigen bei aller Unterschiedlichkeit, dass auf beiden Seiten hier Fehler gemacht wurden.
Amt und Charisma
Schon früh haben sich in den christlichen Gemeinden besondere Ämter herausgebildet, um die anstehenden Aufgaben zu erledigen. Neben der Festlegung der Schriften des Neuen Testamentes und dem Glaubensbekenntnis gehörte die Stärkung des kirchlichen Amtes mit zu den drei Säulen im Kampf um die Erhaltung der Kirche gegen die Bedrohung durch die Irrlehren der spätantiken Gnosis. Im Idealfall – der glücklicherweise gar nicht so selten ist – fallen Amt und Charisma zusammen: eine besondere persönliche Eignung findet ihre Bestätigung durch die Gemeinschaft und den Auftrag zu diesem Dienst. Mitunter ergeben sich aber auch handfeste Konflikte. Das Amt hat die Funktion, das Bleiben in der Wahrheit der apostolischen Überlieferung sicher zu stellen. Aber es kann auch pervertieren (wie z.B. beim „Reichsbischof“ der Nazizeit). Dann haben von Zeit zu Zeit Charismatiker die Aufgabe, die institutionell Berufenen zur Sache zu rufen. Weil es aber Aufgabe der Amtsträger ist, den Dienst an der Einheit - sowohl innerhalb der Ortsgemeinde, als auch in gesamtkirchlicher Hinsicht - wahrzunehmen, darum obliegt ihnen die Sorge für die einheitsstiftenden Sakramente, erläuterte Prof. Kühn.
Abendmahl im Hauskreis?
Eine kontroverse Diskussion entspann sich um die Frage, in welchem Kreis Abendmahlsfeiern zulässig sind. In den freien Gemeinden besteht oft ein vergleichsweise lockererer Umgang mit dem Abendmahl. Abendmahlsfeiern in Hauskreisen sind selbstverständlich. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass das Abendmahl aus dem jüdischen Passa entstanden ist, welches eine Familienfeier war. Eine zu starke Regulierung würde als Überbleibsel eines röm.-kath. Amtsverständnisses empfunden. Demgegenüber ist die Sakramentsverwaltung im landeskirchlichen Bereich vergleichsweise streng geregelt. Das Abendmahl hat nach der Überzeugung der landeskirchlichen Gesprächsteilnehmer seinen Platz im Gemeindegottesdienst. Dies hat seinen Sinn darin, dass das Abendmahl seinem Wesen nach nicht einfach ein Gruppengeschehen ist, sondern eine gesamtkirchliche Dimension aufweist. Darum braucht es einen Beauftragten (Ordinierten), der als Person auch diese Dimension repräsentiert. In den ökumenischen Gesprächen mit der römisch-katholischen, aber auch der Anglikanischen und den orthodoxen Kirchen ist der geordnete Umgang mit den Sakramenten ein wichtiges Thema. Wenn im Neuen Testament vom Abendmahl „in den Häusern“ die Rede ist, so darf das nicht mit einem heutigen Hauskreis verwechselt werden. Die Häuser waren die Gottesdienststätten der ersten Christen, was dort stattfand, war der Gemeindegottesdienst. Darum hat das Abendmahl dort seinen Platz. Allerdings wird auch in den freien Gemeinden in der Regel auf einen würdevollen Umgang mit dem Abendmahl geachtet und auch in der Landeskirche gibt es gelegentlich – z.B. bei Jugendgruppen – Ausnahmen von der Bindung des Abendmahles an den Gemeindegottesdienst.
Ausblick
Dies alles sind nur Schlaglichter auf eine vielschichtige Diskussion. Die Begegnungstagungen können nicht die unterschiedlichen Verständnisse in manchen theologischen Sachfragen beseitigen. Aber sie können Vorurteile und Missverständnisse eindämmen, wie sie auf beiden Seiten bestehen. Damit machen sie es schwerer, die andere Seite einfach mit Pauschalurteilen zu verdammen – als geistlich tot oder als Schwarmgeister, als „Amtskirche“ oder als „Sektierer“. Die Kenntnis der Hintergründe, warum der andere so denkt, wie er denkt, ist wesentlich für das gegenseitige Verständnis. Darin liegt der eigentliche Gewinn solcher Begegnungen.