Zum Beginn des Ersten Weltkrieges vor 100 Jahren
Gemeindebriefe sind ein Spiegel des kirchlichen Lebens. Im Archiv fand der ehemalige Landesvorsitzende des Evangelischen Bundes Sachsen, Pfr. i.R. Gottfried Walther, die Gemeindebriefe seiner Gemeinde in Meißen aus der Zeit zu Beginn des Ersten Weltkrieges. Was er dort an Kriegsbegeisterung und theologischer Rechtfertigung des Krieges lesen musste, führte erst zum Erschrecken, dann zu vertiefter Beschäftigung mit dem Thema und schließlich zu diesen Thesen, die zur Diskussion anregen und das Gewissen auch für den Umgang mit aktuellen militärischen Konflikten schärfen sollen.
1. In der deutschen Öffentlichkeit gab es damals sehr weitgehende Übereinstimmung, dass sich das Deutsche Reich in einer Verteidigungssituation befinde und dass der Krieg für die Deutschen eine gerechte Sache sei. Die Kriegsschuldfrage wurde unter den Historikern international lange Zeit kontrovers diskutiert. Erst in der neuesten Zeit setzte sich die Erkenntnis durch, dass es bei allen beteiligten Staaten zu wenig Bemühungen gegeben hat, den Krieg zu vermeiden. Der deutsche Kaiser Wilhelm II. hat bis zu seinem Lebensende beteuert, dass er den Krieg nicht gewollt habe. Andererseits hat er weder erkannt noch zugegeben, dass er durch sein widersprüchliches, inkompetentes Verhalten viele Chancen verpasst hat, zur Erhaltung des Friedens beizutragen.
2. In der deutschen Öffentlichkeit war die Auffassung weit verbreitet, dass es nicht nur um die Verteidigung des Deutschen Reiches, sondern auch um die Verteidigung von Werten ging, die als typisch deutsch angesehen wurden, während man die Völker der feindlichen Staaten in überheblicher und pauschaler Weise als primitiv oder unmoralisch einschätzte. Viele hofften, durch den gemeinsamen Kampf für das Vaterland die Rückbesinnung auf christliche Werte und die Überwindung von Egoismus, Individualismus und Klassenkampf erreichen zu können.
3. Die Vertreter der christlichen Kirchen hofften besonders stark auf die Läuterung der Gesellschaft durch die selbstlose Hingabe an den Kampf für das Vaterland.
4. Zu Beginn des Krieges gab es in Deutschland eine für spätere Generationen kaum vorstellbare Kriegsbegeisterung.
5. Sehr viele evangelische Pfarrer sprachen in ihren Predigten und schrieben in den Kirchgemeindeblättern vom „Heiligen Krieg“ und wurden damit einer verhängnisvollen Grenzüberschreitung schuldig, bei der sie sich nicht auf die theologischen Traditionen der Reformation berufen konnten, auch wenn sie den vermeintlichen Verteidigungskrieg für gerecht im Sinne von Artikel 16 des Augsburgischen Bekenntnisses gehalten haben.
6. Auch an der moralischen Überbewertung des deutschen Volkes und der damit verbundenen Verachtung anderer Völker haben sich viele Vertreter des deutschen Protestantismus beteiligt.
7. Als die Hoffnung auf einen noch vor Weihnachten 1914 erreichten Sieg nicht erfüllt worden war, erfassten Kriegsmüdigkeit und Friedenssehnsucht die Soldaten auf beiden Seiten des zermürbenden Stellungskrieges an der Westfront in Frankreich und Belgien. Es kam zu vielen spontanen Verbrüderungsszenen während der Weihnachtstage. Leider wurde das kaum von denen, die berufen waren, das Evangelium zu predigen, als positives Zeichen gedeutet. Vielmehr wurden die Soldaten von den Vertretern der Kirchen unvermindert zum Einsatz ihres Lebens für den Sieg des Vaterlandes aufgerufen.
8. Der Tod für das Vaterland wurde als Verhalten interpretiert, das dem Glauben an das stellvertretende Leiden und Sterben Jesu Christi entspricht. Für die Soldaten musste das in zunehmendem Maße menschenverachtend wirken, da sie sich nach der vergangenen Motivation der ersten Wochen immer deutlicher bewusst wurden, dass sie nur durch den Zwang der Staatsgewalt am Kämpfen und Sterben teilnahmen.
9. Die moderne Kriegstechnik wirkte sich so verheerend aus, dass zahlreiche Soldaten traumatisiert wurden. Da es auch in diesem Zusammenhang bei vielen Seelsorgern nicht zu einem Umdenken kam, ergab sich allmählich eine tiefe Entfremdung vieler Kriegsteilnehmer von den Kirchen und vom christlichen Glauben überhaupt.
10. Während es trotz fehlender militärischer Entscheidungen in der deutschen Öffentlichkeit eine Diskussion über unrealistische Kriegsziele wie die Aneignung fremder Territorien gab, suchte Papst Benedikt XV. durch eine moderate Vermittlungsinitiative einen Weg zum Frieden. Im Deutschen Reichstag kam es bei den Sozialdemokraten, bei der katholischen Zentrumspartei und im Lager des politischen Liberalismus im Laufe der Zeit zur Suche nach einer fairen Friedenslösung. Dagegen zeigte sich beim deutschen Protestantismus die grundsätzliche Verknüpfung mit der autoritären Monarchie und die tiefe Skepsis gegenüber der Demokratie.
11. In der Geschichte der Christenheit gibt es notwendigerweise immer wieder das Nachdenken über das Recht und die Grenzen staatlicher Machtausübung. Neben dem Wort von der Notwendigkeit staatlicher Machtausübung in Römerbrief Kap. 13 ist auch die Aussage von der Dämonie der Macht in Offenbarung Kap. 13 zu bedenken. Martin Luther lehnte zwar einen Aufstand gegen die Obrigkeit grundsätzlich ab, im Falle eines ungerechten Krieges riet er aber den Soldaten zu desertieren, was in Zeiten der deutschen Kleinstaaterei leichter war, als im 20. Jahrhundert.
12. In der vorchristlichen Antike kam es zur Verherrlichung von mächtigen Herrschern, die ihren Ruhm in der Eroberung von Ländern und der Unterwerfung von Völkern zu erreichen suchten. Dieses Denken hat auch die Geschichte der Christenheit stark beeinflusst. Ganz selbstverständlich wurden erfolgreiche Eroberer als „große“ Herrscher bezeichnet. Alexander der Große, Julius Cäsar, Augustus, Karl der Große, Friedrich der Große wurden auch von christlichen Historikern und Geschichtslehrern mit Respekt behandelt. Dabei wurden sehr oft das Unrecht und die extreme Brutalität, mit der sie ihre Ziele zu erreichen suchten, entschuldigt. Selbst bei Napoleon I., den man in Deutschland als Feind erlebt hatte, bewunderte man seine Genialität. So wurde 1914 auch der Überfall auf das neutrale Belgien aus strategischen Gründen gerechtfertigt und nur von den Feinden kritisiert, was man als Heuchelei abtat. Gedanken der Kontrolle der Macht durch das Recht wurden schnell als unrealistische Schwärmerei abgetan.
13. Als die militärische Niederlage im Herbst 1918 unübersehbar war, drängte die Oberste Heeresleitung auf einen Waffenstillstand, der nicht vom Kaiser, sondern vom Reichstag gesucht werden sollte. Später behaupteten Hindenburg und andere wider besseres Wissen, dass die „Flaumänner“ vom Reichstag das Vaterland verraten und das deutsche Heer um den Sieg gebracht hätten. Leider findet sich dieses Denken auch in großer Breite bei den damaligen Vertretern der evangelischen Kirchen. Ohne das massive Eintreten vieler evangelischer Pfarrer für die Deutschnationalen wäre Hindenburg 1925 nicht Reichspräsident geworden.
14. In Hindenburg hat man einen Ersatzkaiser gesehen. Die deutsche evangelische Pfarrerschaft hat das Ende der Monarchie in Deutschland weithin tief bedauert. Die Verflechtung von Thron und Altar hatten sehr viele Theologen nicht als Unfreiheit erkannt, ebenso wenig wie sie damals ein positives Verhältnis zur Demokratie finden konnten.
15. Diese Erkenntnisse wurden allerdings durch die Festlegung der Siegermächte auf die Alleinschuld Deutschlands für den I. Weltkrieg und die feindlichen Bestimmungen des Versailler Vertrages erschwert. Außerdem war die Revolution Lenins in Russland und das radikale Auftreten der Kommunisten in Deutschland zu Recht abschreckend für die Christen.
16. Auch das Judentum in Deutschland hat sich an der vermeintlichen Verteidigung des Deutschen Reiches ohne Vorbehalte beteiligt. Besonders als Ärzte gelangten viele Juden auch zu Offiziersrängen und Auszeichnungen. Allerdings setzte 1917 eine antisemitische Welle der Beschuldigung der Juden als Drückeberger ein. Für viele Christen in Deutschland waren die Juden entweder als Vertreter einer anderen Religion weitab von allem näheren Interesse, oder sie galten in alter antijudaistischer Tradition grundsätzlich als Feinde des Evangeliums. Noch schlimmer war es, dass die Christenheit in Deutschland schon vor dem I. Weltkrieg auch unter den Einfluss des rassistisch orientierten Antisemitismus gekommen war. Im Unterschied zu Bismarck, der weithin frei von Vorurteilen gegenüber den Juden war, hatte Wilhelm II. eine tiefe Abneigung gegenüber den Juden. Es sind erschreckend antisemitische Äußerungen von ihm bekannt, die allerdings wie auch viele andere seiner Aussagen nicht konsequent gemeint und deshalb auch nicht ganz ernst genommen werden müssen.
17. Umso ernster hätte von Anfang an das Auftreten Hitlers mit seinem extremen Judenhass und mit seinem grundsätzlichen Willen zum Krieg von allen und besonders von den Christen in Deutschland genommen werden müssen.
18. Weil der I. Weltkrieg nicht mit einem echten Frieden mit Vergebung und Versöhnung geendet hatte, und die Probleme der Feindschaft unter den Völkern nicht aufgearbeitet waren, konnte Hitler das deutsche Volk verführen und der Welt den schrecklichen II. Weltkrieg aufnötigen und sein Bemühen, die Juden zu vernichten, so weit treiben.
19. Hitlers Hass gegen alle, die anders geprägt oder gesinnt waren als er selbst – bis zum totalen Vernichtungswillen gesteigert in seiner Ablehnung der Juden, letztlich seine radikale Ablehnung Gottes und seiner Gebote und damit seines erwählten Volkes – zeigen ihn als zwanghaften Diener der Gottesfeindschaft und damit in antichristlicher Zielrichtung. Durch die nationalkonservative Ausrichtung der evangelischen Kirche und die auf die eigene Bestandssicherung konzentrierte Diplomatie der Päpste Pius XI. und Pius XII. hat die Christenheit in Deutschland die Gefahr des nazistischen totalitären Systems viel zu spät erkannt.
20. Paul Schneider, Dietrich Bonhoeffer und wenige andere haben das ganze Ausmaß der Mitschuld der Kirchen in Deutschland erkannt und sind auch deshalb umgebracht worden. Nach einem Sieg Hitlers wären wohl wie die Juden auch die Christen umgebracht worden.
21. Die Bekennende Kirche hat ein wichtiges Zeichen gesetzt, aber sie hatte nur die Kraft, der Einmischung der Nazis in die innerkirchlichen Angelegenheiten wenigstens im Ansatz zu widerstehen. In der Abwehr der Verfälschung der Verkündigung des Evangeliums durch die „Deutschen Christen“ haben die Vertreter der Bekennenden Kirche die Klarheit der Botschaft von Jesus Christus wiederentdeckt.
22. Der Schweizer reformierte Pfarrer und Theologe Karl Barth hatte durch sein tiefes Erschrecken über den Beginn des I. Weltkrieges und über die Beteiligung der meisten deutschen Theologieprofessoren an der kaiserlichen Kriegspropaganda zu einer Neubesinnung des theologischen Denkens auf die Offenbarung Gottes in Jesus Christus gefunden und die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments nicht nur wie in der liberalen Theologie als Ausdruck menschlichen Glaubens, sondern auch als Urkunden der Offenbarung Gottes erkannt, ohne dabei in eine fundamentalistische Enge der Schriftauslegung zu geraten. Er hat der Bekennenden Kirche (Barmer Theologische Erklärung) und den Pfarrern nach dem II. Weltkrieg wertvolle Impulse für die Verkündigung gegeben, die bis heute relevant sind.
23. Die Nachkriegszeit bis 1990 war für Deutschland eine Zeit von Gericht und Gnade. In den notvollen ersten Jahren der Nachkriegszeit konnten viele Christen unter verschiedenen Bedingungen im Westen und im Osten sich neu am Evangelium orientieren. Es zeigte sich, dass trotz der Schuld, in die die Christen und die Kirchen verstrickt waren, Gott nicht aufgehört hatte, auch in Deutschland durch sein Wort und durch seinen Geist zu wirken.
24. Bei der friedlichen Revolution in der DDR von 1989/90 durften die Christen und die Kirchen für die Öffentlichkeit wichtig werden. Frei von jeder Selbstgefälligkeit dürfen wir Gott für dieses unverdiente Geschenk danken.
25. Seit 1990 ist Deutschland wieder ein normales Land. Die besondere Geschichte Deutschlands von 1914–1990 kann nur in tiefer Demut richtig bedacht werden.
26. Ein normales Land heißt nicht ein ideales Land. Wir Deutschen von heute brauchen immer wieder die Vergebung unserer Schuld, so wie auch alle anderen Völker die Gnade Gottes brauchen.
27. Als Christen müssen wir unser Leben nicht beschönigen. Wir müssen uns nicht selbst rechtfertigen. Die Verstrickung unserer Kirche in die Schuld der Welt ist eine Realität, aber „wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist. Und er ist die Versöhnung für unsere Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt.“ (1. Johannesbrief 2,1b-2)