Denken entqueren
Hilfe, mein Vater|Freund|Nachbar|Kirchvorsteher|Arbeitskollege meint plötzlich, die Regierung wolle die Bevölkerung versklaven oder Bill Gates wolle alle mit Mikrochips impfen. Was kann ich tun? Die folgenden Tipps und Hinweise wenden Erfahrungen aus dem Bereich der Sektenberatung auf dieses Problemfeld an.
Vorklärungen: Wer ist der Adressat?
In welchem Rahmen findet die Auseinandersetzung statt? Bei einem öffentlichen Streit mit Zuschauern (oder Mitlesern) stehen grundsätzlich die Chancen schlechter, das Gegenüber zu überzeugen. Niemand blamiert sich gern vor anderen. Dort sind die eigentlichen Adressaten die Zuhörer der Debatte, die vielleicht durch eine gute Argumentation zu gewinnen sind.
Einen völlig anderen Charakter hat ein persönliches Gespräch unter vier Augen. Dort besteht viel eher die Möglichkeit, wirklich argumentativ aufeinander einzugehen und nicht nur einen Schlagabtausch zu liefern. Die folgenden Ratschläge beziehen sich schwerpunktmäßig auf eine solche persönliche Gesprächsebene.
Phasen bis zur Reaktion
Katharina Locun und Pia Lamberty haben fünf Phasen des prosozialen Verhaltens beschrieben1:
- Wahrnehmung: Nur wenn ich eine Aussage als problematisch erkenne, kann ich darauf reagieren.
- Situation interpretieren: Habe nur ich etwas falsch verstanden? Kein anderer reagiert darauf? Dieses Phänomen nennt man „pluralistische Ignoranz“: Jeder nimmt an, es gebe kein Problem, weil niemand anderes reagiert.
- Verantwortung übernehmen: Will ich jetzt etwas sagen und die Folgen riskieren?
- Eigene Fähigkeiten einschätzen: Wieviel weiß ich von der Sache? Ist es jetzt möglich, das Problem anzusprechen? (Bin ich gerade nachts allein im Zug mit alkoholisierten Neonazis? Dann ist es klüger, auf die Intervention zu verzichten.)
- Handeln.
Erst nachdem diese Phasen durchlaufen sind, kann eine Reaktion erfolgen. Dabei können die folgenden Hinweise Orientierungen geben.
1. Rechtzeitig intervenieren
Schweigen ist (bis auf wenige Ausnahmen) immer die schlechteste Option. Notfalls genügt auch ein schlichtes „Das sehe ich anders“. Natürlich wäre eine gute Begründung dazu besser. Aber auch ohne Begründung kann solch eine Stellungnahme ein wichtiges Zeichen sein. Es kommt darauf an, Unsinn und Lügen nicht unwidersprochen zu lassen, denn Schweigen wird als stille Zustimmung gedeutet. Je länger und intensiver eine Person sich in Verschwörungserzählungen verstrickt, desto schwieriger wird der Rückweg. Das gilt vor allem deshalb, weil die gemeinsame Basis immer mehr schwindet. Darum ist es wichtig, immer möglichst frühzeitig zu intervenieren und nicht darauf zu hoffen, dass sich das von selbst wieder einrenkt.
2. Verbündete suchen
Grundsätzlich ist es sinnvoll nach Verbündeten zu suchen. Das gilt im Familienkreis wie in der Gemeinde oder am Arbeitsplatz. Es ist viel besser, wenn es mehrere Gesprächspartner gibt und von verschiedenen Seiten richtige Argumente kommen. Sprechen sie also Geschwister, Freunde und Bekannte der Person gezielt an und bitten Sie, mit ihr das Gespräch zu suchen.
3. Kontakt halten
Wie bei einer „Sektenkarriere“ besteht ein ernsthaftes Problem in der zunehmenden Isolation der Verschwörungsgläubigen in ihrer eigenen Blase. Diese Selbstausgrenzung und der wachsende Realitätsverlust bestärken sich gegenseitig. Darum ist als Gegenmittel alles das hilfreich, was diese Ausgrenzung durchbricht und Brücken zum „realen“ Leben baut. Bekannte, Verwandte, Nachbarn und Freunde haben darum eine viel größere Chance auf erfolgreiche Gespräche als Fremde. Daher sollten wo möglich die bestehenden Kontakt- und Begegnungsmöglichkeiten genutzt werden, um eine menschliche Verbindung am Laufen zu halten.
4. Empathie gewinnen
Mit welcher inneren Haltung begebe ich mich in das Gespräch? Grundsätzlich nimmt man von einem Menschen, dem man nahe steht und zu dem eine positive emotionale Verbindung besteht, viel eher Argumente entgegen, als wenn die Person feindselig erscheint und als ideologischer Gegner wahrgenommen wird. Die Grundhaltung sollte folglich die Empathie sein, nicht die Feindschaft. Das mag zunächst überraschen und in manchen Fällen schwerfallen, wenn das Gegenüber Positionen vertritt, die Menschenfeindlichkeit transportieren oder von kurzsichtigem Egoismus getragen sind. Dennoch: Es geht darum, Menschen zu gewinnen, nicht sie zu vernichten. Die Grundhaltung sollte eine ausgestreckte Hand sein, die diesem konkreten Menschen hilft, über den Graben zu springen. Häme und Verachtung, weil er am „falschen“ Ufer steht, helfen nicht weiter. Es geht um eine Wertschätzung der Person trotz Kritik an der Sache. Theologisch gesprochen: Gott liebt den Sünder – trotz der Sünde.
5. Freundlich bleiben
Daraus folgt, dass man sich immer um einen respektvollen Stil bemühen sollte, egal wie abstrus die Auffassungen des Gesprächspartners sein mögen. Dazu gehört, die Person ernst zu nehmen in dem, was sie sagt. Spott und Belustigung sind kontraproduktiv. Niemand fühlt sich ernst genommen, wenn Witze über die eigenen Anliegen gemacht werden. Höflich und freundlich agieren, nicht beschimpfen oder laut werden. Wer schreit, hat verloren. Auch gilt es zu vermeiden, dass die eigenen Ausführungen als herablassend und belehrend wahrgenommen werden, weil auch das der Annahme und Akzeptenz im Wege stehen könnte. Immer geht es darum, Brücken zu bauen zum Verständnis. Dazu gehört auch, nicht zu konfrontativ zu agieren. Nicht in die Enge treiben, sondern Perspektiven eröffnen.
6. Ausmaß abschätzen
Im Gespräch mit Verschwörungsgläubigen sind je nach Intensität der Verstrickung unterschiedliche Herangehensweisen zu empfehlen.
a) Faktenbezogen: Bei leichteren Fällen, die noch am Anfang stehen und durch erste Zweifel auf diesen Weg gebracht wurden, ist eine faktenbezoge Argumentation zu empfehlen. Dabei geht es darum, die konkrete Verschwörungserzählung zu betrachten und im sachbezogenen Gespräch die Wahrscheinlichkeiten, die für oder gegen das Vorliegen einer tatsächlichen Verschwörung sprechen, nach logischen Gesichtspunkten zu bewerten. Außerdem geben diverse Faktenchecker2 wichtige Hilfen, indem sie die nötigen Sachinformationen aufbereiten.
b) Lebensbezogen: Bei schwereren Fällen, wo die Personen schon länger dabei sind und ein gefestigtes verschwörungsideologisches Weltbild verinnerlicht haben, kommt man mit einer faktenbezogenen Argumentation nicht weiter. Dort geht es nicht mehr um einen einzelnen konkreten Vorgang. Jede Lücke würde sofort wieder anders gefüllt. In diesem Fall empfiehlt es sich, eher die Perspektive grundlegend auf das Leben zu richten. Verschwörungserzählungen sind oft Platzhalter für zugrundeliegende tiefe Verunsicherungen. Diese zu identifizieren und zu bearbeiten kann helfen, dass die Person sich nicht mehr so an eine verschwörungsideologische Deutung klammern muss. Kontrollverlust ist einer der Faktoren, die Menschen zu Verschwörungserzählungen greifen lässt, weil sie damit scheinbar in einer unübersichtlichen Welt wieder Ordnung gewinnen. Wer auf andere Weise Kontrolle über sein Leben gewinnen und Selbstwirksamkeit erfahren kann, ist weniger stark darauf angewiesen.
7. Bei der Sache bleiben
Ein beliebter Trick, um einer unangenehmen Argumentation auszuweichen, ist das Themenhopping. Sobald man an einer Stelle nicht mehr weiter kommt, wird flugs ein anderes Thema aufgemacht. Dies gilt es zu erkennen und nicht mitzumachen. Es kommt darauf an, das Gespräch auf die eigentlich relevanten Elemente zu fokussieren.
8. Strukturen statt Akteure bedenken:
Verschwörungserzählungen fragen gern nach den Schuldigen. Sie suchen nach den Akteuren hinter dem Geschehen, die sie für alle empfundenen Missstände verantwortlich machen können. Häufig sind in der Realität aber strukturelle Probleme die wahre Ursache für Zustände auf vielen Ebenen. Diese sind durch ein kompliziertes Geflecht von Faktoren verursacht. Natürlich sind da auch wieder Menschen beteiligt – aber eben nicht als Einzelne und mit solcher Machtfülle, wie Verschwörungserzählungen unterstellen.
9. Fragen statt Antworten
Für die Gesprächsführung ist es stets empfehlenswert, mehr mit Fragen als mit Antworten zu arbeiten. Ein Sachverhalt ist 10x überzeugender, wenn man ihn sich selbst erschlossen hat, als wenn er von anderen behauptet wurde. Ziel ist es also, mit Fragen Zweifel an dem verschwörungsideologischen Weltbild zu setzen. Damit kann die Tür zu einer vernunftbezogenen Argumentation einen Spalt geöffnet werden.
10. Geduld haben
Meinungen ändern sich frühestens über Nacht, (fast) niemals während einer Diskussion. Insofern sind kleine Schritte, Beharrlichkeit und Geduld im Umgang miteinander wesentlich erfolgversprechender, als die Erwartung, in einem einzelnen Gespräch ein Bekehrungserlebnis zu erzeugen. Deshalb sollte man sich nicht entmutigen lassen und auch über kleine Erfolge freuen lernen.
Harald Lamprecht
Faktenbezogene Argumentation: Logische Rückfragen an Verschwörungserzählungen
Können die das überhaupt? Grundfehler vieler Verschwörungserzählungen ist, dass den vermeintlichen Drahtziehern unrealistisch viel Macht und Kompetenz zugeschrieben wird.
Die sind sich alle einig? Im realen Leben gibt es unter Menschen immer verschiedene Meinungen und Auseinandersetzungen darüber, was in einer bestimmten Situation das Richtige ist. Die Verschwörer werden statt dessen als homogene Gruppe beschrieben, die sich vollkommen einig sind in ihren langfristig geplanten Aktionen.
Ausmaß bedenken: Alle real auftretenden Verschwörungen sind begrenzt: zeitlich, räumlich, personell und in ihrem Erfolg.
Wie viele Mitwisser? Die einzig sichere Verschwörung ist die mit sich selbst im eigenen Kopf. Jede weitere Beteiligung macht die Sache riskant. Bei mehr als drei Personen steigt das Risiko der Aufdeckung exponentiell an, eben auch weil sich die Akteure nie in allen Fragen komplett einig sind.
Wie lange? Angebliche Geheimpläne, die über mehrere Jahrhunderte und Generationen verfolgt werden, sind Unsinn.
Wie groß? Ein Putschversuch in einem militarisierten Land ist möglich. Eine heimliche Absprache sämtlicher Regierungen dieser Welt, doch mal mit einem Virus ihre Bevölkerungen in den Freiheitsrechten zu beschränken, sprengt die Grenzen des vernünftig Vorstellbaren.
Wie erfolgreich? Ja, es gibt verdeckte Geheimdienstoperationen. Aber wie viele davon sind schief gegangen – oder hatten langfristig ganz andere Effekte, als von den Initiatoren erhofft?
Keine Eigeninteressen? Verschwörungserzählungen arbeiten mit Verallgemeinerungen über komplexe Gruppen. „Die Medien“ unterdrücken angeblich Wahrheiten, „die Wissenschaft“ habe sich bezüglich des Klimawandels verschworen, „die Schulmedizin“ würde wirksame Wundermittel totschweigen usw. Allerdings funktionieren geheime Absprachen nicht in solch einem großen Rahmen. Dafür haben die vielen Akteure zu viele Eigeninteressen. Welcher Forscher würde auf den sicheren Nobelpreis verzichten, wenn er tatsächlich Weltveränderndes herausgefunden hätte?
Lebensbezogene Argumentation: Gewinne und Verluste deutlich machen
Verschwörungserzählungen sind attraktiv, weil sie kurzfristig starke Gewinne liefern, die aber mit langfristigen schweren Folgen teuer erkauft sind. Es gilt, diese tatsächliche Kosten-Nutzen-Relation ins Bewusstsein zu bringen.
Kurzfristige Gewinne:
- Selbstwertgefühl: Ich gehöre zur Elite, ich hab’s kapiert, ich durchschaue die Verschwörung.
- Welterklärung (Kontingenzbewältigung): Ich weiß warum (und ich bin nicht dran schuld, sondern andere).
- Handlungsfähigkeit: Wenn Welt nicht von Zufall und Chaos durchzogen ist, sondern alles gesteuert wird, dann könnte man herausfinden, wer steuert und dann versuchen, diese Personen zur Verantwortung zu ziehen. Also: Demonstrationen statt Virusangst.
Langfristige Verluste:
- Vertrauensverlust: Kern aller Verschwörungserzählungen ist das Misstrauen in die offizielle Darstellung. Das führt zu Misstrauen in sämtliche öffentlichen Institutionen. Man fühlt sich ständig betrogen.
- Leidensdruck und Angst: Verschwörungserzählungen gehen aus Prinzip davon aus, dass die Verschwörer Böses planen und zum Nachteil der Bevölkerung handeln. Das erzeugt einen ständigen Leidensdruck. Wer meint, die Regierung würde mit Chemtrails Gift versprühen, traut sich nicht mehr unbeschwert aus dem Haus.
- Gesundheitliche Nachteile: Wer seinen Krebs mit Germanischer Medizin statt ggf. nötiger Chemotherapie behandeln will, wird daran sterben. Wer gegen Impfungen polemisiert, riskiert schwere bis tödliche Verläufe bei Infektionskrankheiten.
- Soziale Isolation: Die wachsenden Beziehungsabbrüche in Familie, Freundeskreis und Berufsleben zu allen, die keine Lust mehr haben, sich mit fanatisierten Verschwörungsideologen herumzustreiten, führen in Einsamkeit.
- Zerstörung der Demokratie: Langfristig am schwerwiegendsten dürfte sich die Zerstörung des Vertrauens in die demokratische Ordnung auswirken. Solches schafft erst Raum für Despoten und Tyrannen.
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