Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!

Missverständnisse zum Thema Meinungsfreiheit

Das Thema Meinungsfreiheit wird derzeit an vielen Stellen kontrovers diskutiert. Menschen äußern ihr Gefühl, dass sie nicht mehr ihre Meinung sagen dürften. Was hat es damit auf sich? Zunächst ein Blick auf die Rahmenbedingungen.

Die neue Sensibilität

Es gibt an vielen Stellen Veränderungen in Kirche und Gesellschaft. Globalisierung und Digitalisierung bewirken schnelle und tiefgreifende Umgestaltungen. Aber auch andere Veränderungen geschehen im gesellschaftlichen Bewusstsein. So ist in den letzten Jahrzehnten an vielen Stellen eine neue Sensibilität dafür gewachsen, wo wir als Menschen ungerecht miteinander umgehen. Viele achten aufmerksamer darauf, wo wir einander verletzen, bevormunden oder vereinnahmen. Jedenfalls ist das Bemühen dazu zu sehen. Einige Beispiele:

  • Kirche und Judentum: Jahrhundertelang war das Verhältnis von einer massiven Überheblichkeit der Christen gegenüber den Juden geprägt. Heute gibt es vielfach eine theologische Neubesinnung. Theologisch zeigt sie sich in der Erkenntnis der bleibenden Erwählung Israels (Gott ist treu). Gesellschaftlich gehört eine neue Aufmerksamkeit gegen Antisemitismus dazu. So wird z.B. diskutiert, ob die „Judensau“ in Wittenberg hängen bleiben soll oder nicht.
  • Rassismus: Über Jahrhunderte waren christliche Gesellschaften aktiv in Sklaverei verwickelt und fanden auch schlimmen Rassismus selbstverständlich. Heute wächst das Bewusstsein, dass jeder Mensch von Gott geschaffen wurde und es daher ein Verbrechen ist, Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder ihrer ethnischen oder kulturellen Herkunft abzuwerten.
  • Gerechtigkeit zwischen Männern und Frauen: Die Geschichte ist ohne Frage patriarchal geprägt. Was heute unter dem Begriff „Gender“ kontrovers diskutiert wird, ist (von einigen Übertreibungen abgesehen) im Kern das berechtigte Anliegen, mehr Gerechtigkeit walten zu lassen.
  • Ausbeutung: Auch die Frage nach Gerechtigkeit im Arbeitsmarkt bewegt unsere Zeit. In Deutschland gibt es keine Kinderarbeit mehr – sehr wohl aber in anderen Teilen der Welt. Die Verlagerung von Produktion ins Ausland aufgrund der dortigen schlechteren Sozialstandards darf uns nicht egal sein.
  • Klima: Fridays for Future sind keine radikalen Spinner mit utopischen Forderungen, sondern Kinder, die lediglich verlangen, dass die Politik ihre eigenen Versprechungen einhalten und die Erkenntnisse der Wissenschaft ernst nehmen soll. Die Forderung nach Bewahrung der Schöpfung ist aus dem kirchlichen Binnenbereich zu einer gesellschaftlichen Strömung geworden – aus akuter Not heraus.

Veränderungsverdruss

Das sind fünf beispielhafte Bereiche, in denen wesentliche Teile der Gesellschaft einen früheren Zustand als schlecht erkannt haben. Darum möchten sie nicht darin verharren und streben aktiv Veränderungen im Denken und Handeln an. Das kann sich durchaus in einem erzieherischen Impetus gegenüber Mitmenschen äußern. Das Problem dabei: Veränderungen machen Stress. Für nicht wenige Menschen scheint durch den unvermeidlichen Änderungsdruck durch Globalisierung und Digitalisierung schon ihr persönliches Budget für Neues aufgebraucht. Entsprechend wehren sie sich gegen solche weiteren Neuorientierungen. Noch weniger wollen sie  belehrt und erzogen werden. Ein Teil dieses Widerstandes resultiert aus konservativem Denken (früher = besser), teilweise mag auch die Sorge um den Verlust von Privilegien, Macht, Einfluss oder Geld beteiligt sein. Bei denen, die von ungerechten Verhältnissen profitieren, ist diese Sorge ja auch nicht ganz unbegründet.

Wer nun also – aus welchen Gründen auch immer – von dieser neuen Sensibilität für Ungerechtigkeiten früherer Zeiten nicht ergriffen ist, wer gern weiter über „Neger“ schimpfen oder über „Zigeuner“ Witze machen möchte oder „wie früher“ ungestraft Frauen am Arbeitsplatz sexuelle Anzüglichkeiten zumuten will, der wird inzwischen auf stärkeren Gegenwind stoßen und feststellen, dass in der Tat sein „Meinungskorridor“ eingeschränkt ist, unwidersprochen solche Dinge zu äußern.

Ist damit in Deutschland die Meinungsfreiheit gefährdet? Dazu einige Klarstellungen.

1. Worte haben Konsequenzen.

Das gilt natürlich grundsätzlich. Nur wird dieser offensichtliche Fakt in der aktuellen Debatte seltsam oft geleugnet. „Meinungsfreiheit“ bedeutet nicht, dass es vollkommen egal zu sein hat, was ich sage. Worte haben Konsequenzen. Fast immer.

Wenn ich freundliche und kluge Dinge sage, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen mich respektieren größer, als wenn ich unflätig und unhöflich bin und offensichtliche Lügen verbreite. Das ist so logisch und banal, dass es kaum lohnt, es zu erwähnen. Wer laut Dummheiten sagt, kann auch für dumm gehalten werden. Das kann dann wiederum weitere Konsequenzen haben. Wer die Überzeugung verkündet, die Erde sei eine Scheibe, ist als Geografielehrer nicht geeignet. Das ist keine Frage der Meinungsfreiheit, sondern der Verantwortung für die Bildung der Kinder. Man darf auch Dummheiten äußern – aber muss dann mit den Konsequenzen leben.

Wenn jemand öffentlich erklärt, Menschen anderer Hautfarbe oder Kultur seien grundsätzlich dümmer, dann ist dies sachlich falsch und eine üble rassistische Aussage. Es ist schlimm genug, wenn jemand so etwas denkt. Aber in den Kopf kann niemand sehen. Wer es aber öffentlich äußert, zeigt damit, dass die Person weder angemessenes Wissen noch Empathie besitzt. Reaktionen darauf sind keine mangelnde Akzeptanz der Meinungsfreiheit, sondern schlicht logische Konsequenzen der eigenen Worte.

2. Tatsachen sind keine Meinungen.

Die Unterscheidung zwischen Meinungsäußerungen und Tatsachenbehauptungen ist nicht nur juristisch wichtig. Meinungen sind von der Meinungsfreiheit beschützt, falsche Tatsachenbehauptungen sind es nicht. Dies wird – mehr oder weniger absichtlich – oft durcheinandergebracht. Dann wird versucht, mit dem Argument der Meinungsfreiheit Widerspruch gegen falsche Tatsachenbehauptungen zu unterdrücken. Meinungen kann man nur zu Fragen haben, deren Antwort wir nicht sicher wissen. Dinge, die wir sicher wissen, fallen nicht in den Bereich von Meinungen. Folglich gibt es dafür auch keine Meinungsfreiheit. Ob der Tisch, der vor uns steht, drei oder vier Beine hat, ist keine Frage einer Meinung. Wenn die Erinnerung an den Tisch im Ferienhaus nur vage ist, kann man dazu eine Meinung äußern. Sobald ein Foto vorliegt aber nicht mehr. Rassismus ist keine Meinung, sondern Unrecht. Den menschlichen Einfluss auf den Klimawandel zu leugnen liegt ebenso nicht im Bereich von „Meinungen“ wie die Bestreitung der Wirksamkeit der Covid-19-Impfstoffe. In beiden Fällen ist die wissenschaftliche Evidenz erdrückend und der Konsens der seriösen Forschung eindeutig. Solches zu behaupten ist Zeichen von Ignoranz, Dummheit oder Bösartigkeit. Das alles fällt aber eben nicht unter den Schutz der Meinungsfreiheit.

3. Meinungsfreiheit bedeutet nicht Kritikfreiheit

Nicht selten wird protestiert, man dürfe seine Meinung nicht mehr sagen, nur weil diese Meinungsäußerung auf Kritik von anderen trifft. Es gibt aber kein Recht darauf, unwidersprochen zu bleiben. Man darf seine Meinung sagen – aber eben auch jede/r andere darf sagen was ihr oder ihm daran nicht gefällt. Worte haben eben Konsequenzen (s.o.). Es gibt im zwischenmenschlichen Bereich vieles, das nicht justiziabel ist, aber doch Folgen für das Handeln hat. Unhöflichkeit lässt sich nicht gerichtlich verbieten. Dennoch hat sie Folgen für unser Miteinander. Es gibt Handlungen, die verstoßen nicht gegen das Gesetz des Staates, aber sehr wohl gegen moralische Gesetze des Anstandes, der Sitte und der guten Erziehung. Diese sind nicht verboten, aber sehr wohl kritisierbar. Selbstverständlich kann so etwas auch Folgen haben.

4. In Deutschland besteht Meinungsfreiheit.

Die Meinungsfreiheit ist ein Grundrecht. In ihrem Wesen sind Grundrechte in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Es geht also um Handlungen des Staates.  Diese dürfen nicht das Recht seiner Bürger einschränken, ihre Meinung in Wort und Schrift zu verbreiten. Wie weit dieses Recht geht und wie stark es respektiert wird, kann man z.B. daran deutlich ersehen, dass die Polizei sogar noch Demonstrationen von Querdenkern und Neonazis schützt, obwohl deren dort lautstark geäußerte „Meinungen“ heftig zu kritisieren sind. Aber trotz nötiger Kritik darf sie geäußert werden, egal wie unsinnig sie ist. Das ist unser Recht – und es gilt nach wie vor. Der Unterschied wird z.B. deutlich, wenn man in andere Länder schaut. In Weißrussland wurde ein Flugzeug vom Himmel geholt, um einen Blogger einzusperren, dessen Meinung der Regierung nicht gepasst hat. Dort gibt es keine Meinungsfreiheit – hier sehr wohl. Der Staat muss alle Bürger gleich behandeln. Das bedeutet aber nicht, dass die Bürger gezwungen sind, unhöfliche Menschen als Freund zu akzeptieren, Lügner auf ein Podium zu setzen oder Unsinn unwidersprochen hinzunehmen.

Was ist Wahrheit?

Der möglicherweise schwierigste dieser vier Punkte ist die Unterscheidung von Fakten und Meinungen. In den gegenwärtigen Debatten treffen wir auf ein hohes Maß an gezielter Desinformation. Es werden absichtsvoll und aus politischem Kalkül dreiste Lügen verbreitet. Die cleveren unter ihnen mischen immer etwas Dichtung und Wahrheit zusammen. Das macht die Zurückweisung schwieriger, weil das dann nicht mehr insgesamt geht, sondern man unterscheiden muss: Dieses Detail stimmt zwar, aber jenes ist falsch. Für vielbeschäftigte Menschen ist es schwer bis unmöglich, alles im Detail zu kontrollieren. Da steht dann Aussage gegen Aussage, und welcher man persönlich folgt, wird dadurch zunehmend wieder eine Frage der „Meinung“.

Der wachsende Einfluss sogenannter „Alternaivmedien“ verstärkt die Problematik. Dort wird massiv Desinformation betrieben. Die Folge ist der Verlust einer gemeinsamen Basis an Fakten, auf die sich die Argumentationen und Meinungen überhaupt beziehen können.

Eine Kernfrage für die Zukunft wird daher sein: Woher bekomme ich verlässliche Informationen? Wer sagt mir, was wirklich stimmt?

Wissenschaft betreibt Irrtumsvermeidung

Grundsätzlich verdienen wissenschaftlich saubere Informationen mehr Vertrauen als unwissenschaftliche – aus dem einfachen Grund, weil diese strukturell stärker geprüft sind. Wissenschaft besteht daraus, eigene und fremde Irrtümer systematisch zu suchen. Das unterscheidet sie von blindem Vertrauen auf das „Bauchgefühl“, was letztlich zur Pflege von eigenen Vorurteilen führt. Außerdem ist die wissenschaftliche Gemeinschaft darauf angelegt, sich gegenseitig zu überprüfen. Namhafte Wissenschaftszeitschriften haben ein strenges Regularium unabhängiger Kontrolle, bevor sie Artikel publizieren. Auf diese Weise entstehen starke Evidenz und belastbares Wissen.

Verantwortlicher Journalismus

Seriöser Journalismus bemüht sich nachvollziehbar um die Einhaltung der journalistischen Standards. Dazu gehören u.a. gründliche Recherche, korrekte wahrheitsgemäße Darstellung des Sachverhaltes, Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen, Bericht und Kommentar, Kennzeichnung fraglicher Tatsachen, Darstellung beider Seiten bei kontroversen Themen.

Die öffentlich-rechtlichen Medien erfüllen diese Standards im Wesentlichen gut. In Verschwörungserzählungen werden diese oft zu Unrecht als angeblich gleichgeschaltete Mainstream-Medien diskreditiert. Dabei sind im Gegenteil in den „Alternativmedien“ Recherchequalität und Wahrheitsliebe oft nur in erschreckend geringem Ausmaß vorhanden. Für das Miteinander sind wir darauf angewiesen, dass Diskussionen auf ein gemeinsames Set aus wahrheitsgemäßen Fakten aufbauen können. Deshalb braucht es eine Verständigung darüber, welche Kriterien zur Ermittlung vertrauenswürdiger Medien dienen. Ansonsten kommen wir aus dem Dilemma nicht heraus, dass ständig „alternative Fakten“ als „eigene Meinung“ präsentiert werden und Diskussionen sich von der Realität entfernen. Für Christen sollte es selbstverständlich sein, dass das achte Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ in solcher Weise zur Wahrheitsliebe aufruft.

Dr. Harald Lamprecht

ist Beauftragter für Weltanschauungs- und Sektenfragen der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens und Geschäftsführer des Evangelischen Bundes Sachsen.

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2021 ab Seite 16