„Wer nicht darüber Auskunft geben kann, was ihn im Leben begeistert, hält und trägt, wer nicht mehr über sich selbst hinausweisen möchte, der hat nichts mehr zu sagen und dem droht auf Dauer die Bedeutungslosigkeit“, so eröffnete die Präsidentin des Evangelischen Bundes, Gury Schneider-Ludorff, am 1. Oktober2009 die 101. Generalversammlung in Leipzig. Zwanzig Jahre nach der friedlichen Revolution tagt das Konfessionskundliche und Ökumenische Arbeitswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland in Leipzig.
Konfessionslosigkeit ist keine Randerscheinung
Der Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche Braunschweigs, Friedrich Weber, sieht in der Konfessionslosigkeit eine zentrale Herausforderung für die evangelische Kirche. In seinem Hauptvortrag zur 101. Generalversammlung des Evangelischen Bundes in Leipzig unterzog er die konfessionelle Wirklichkeit in Deutschland einer ehrlichen Analyse: „Konfessionslosigkeit ist in Deutschland keine Randerscheinung mehr. Im Westen kann man von einer ‚erworbenen Konfessionslosigkeit’ sprechen, in Ostdeutschland eher von einer ‚ererbten Konfessionslosigkeit’, die weithin überhaupt nicht als Defizit erlebt wird.“ Begegnung mit Konfessionslosen findet, so der Vorsitzende des Kuratoriums des Konfessionskundlichen Instituts, zunehmend an „Nullpunktsituationen“ statt: „Schon nach einem religiösen Traditionsabbruch von einer Generation können religiöse Grundsituationen kaum noch gedeutet werden.“ Weber sieht hier eine fast paradoxe Gesprächssituation: „Wollen wir unserem Missionsauftrag gerecht werden, gilt es, das Gespräch mit denen zu suchen, die gar nicht wissen, worüber sie überhaupt reden sollen.“ Mission ist damit ein Auftrag an jeden Christen, denn „die Vielen, die wir verloren haben, werden wir nur einzeln zurückgewinnen“.
Den Brühwürfel auflösen
Der Leipziger Theologieprofessor Peter Zimmerling beschrieb in seinem Vortrag seine Wahrnehmung konfessionsloser Realitäten in Leipzig, wenn er von Menschen erzählt bekommt: „Ich möchte an Weihnachten mit meiner Tochter in die Kirche, denn da findet doch immer was mit Tieren statt – und ich will ihr im Leben doch nichts verwehren.“
Weder die Inhalte von Religion noch eine Sprachfähigkeit über theologische Themen können noch vorausgesetzt werden, weshalb die neue Formulierung geistlicher Gewissheiten nötig wird: „Geistliche Sprachfähigkeit kommt auch dadurch zustande, dass theologische Begriffe durch eine alltagstaugliche Sprache ersetzt werden.“ Deshalb ist für den Seelsorgespezialisten Konvivenz die Grundlage gelungener geistlicher Sprachfähigkeit und damit auch jedes missionarischen Handelns. „Entscheidende Voraussetzung für geistliche Sprachfähigkeit ist danach, dass die Verkündigenden am Leben der Menschen, denen sie das Evangelium kommunizieren, auch selbst teilnehmen. Nur unter dieser Bedingung kann die Botschaft des Evangeliums in deren Wirklichkeit zünden.“
Zimmerling appellierte an die Pfarrer/innen, sich auf ihre Hörerschaft einzustellen und die Möglichkeit der Predigt zu nutzen: „Der Pfarrer hat die Aufgabe, den Brühwürfel voll guter Theologie, die er gelernt hat, in eine genießbare Suppe zu verwandeln. Viel zu oft werden aber Brühwürfel gepredigt.“
Er zog seine Straße fröhlich
„Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Dieser Vers aus dem Matthäus-Evangelium (Mt 18,20) ist nach Joachim Reinelt die wesentlichste und zutreffendste Beschreibung von Kirche. Das bezog der römisch-katholische Bischof von Dresden-Meißen ausdrücklich auch auf die ökumenische Gemeinschaft mit der evangelischen Kirche. Diese habe er jüngst in der Begegnung mit evangelischen Amtsträgern deutlich erfahren. „Wissen Sie, warum das so bewegend ist? Sie wissen dann gar nicht mehr, wieso sie eigentlich getrennt sind.“ In einer Bibelarbeit auf der Generalversammlung des Evangelischen Bundes in Leipzig nahm er auch Stellung zur Situation der Christen in Mitteldeutschland.
Gerade im Rückblick auf die ehemalige DDR ist die christliche Lebensperspektive ein höchst konkretes Angebot an die Menschen. Missionarische Veränderung geschieht dabei, so der frühere Caritas-Direktor, durch die persönliche Begegnung. Diese Einsicht aus der eigenen pastoralen Praxis gipfelt in der Anfrage an die eigene Empfänglichkeit für das Wort Gottes, denn „wann berührt uns das Wort Gottes noch so, dass es uns zu Tränen rührt?“ Dafür kann Kirche zwar eine religiöse Infrastruktur bereitstellen, schaffen kann sie Glauben nicht. Im Gegenteil: „Kirche, die nur durch Strukturen zusammengehalten wird, wird nicht halten.“
In ihrer Predigt zum Abschluss der 101. Generalversammlung nahm die Präsidentin des Evangelischen Bundes am Sonntag (4.10.09) Bezug auf den Bericht über die Bekehrung des Kämmerers (Apostelgeschichte 8). Gury Schneider-Ludorff beschrieb darin diese Bekehrung als einen „Bildungsprozess auf Reisen“. Man könne lernen, „dass sich die Hinwendung zum Glauben nicht auf den kirchlichen Raum selbst beschränken lässt, nicht an religiös definierten Orten geschieht, sondern dort stattfindet, wo der Mensch gerade steht.“ Dabei ginge es eben nicht, so die Universitätsprofessorin der Augustana-Hochschule Neuendettelsau, um eine Wissensvermittlung im engen Sinn: „Unsere evangelische Überzeugung ist es doch, dass Glaube und Bildung sich nicht in Faktenwissen erschöpft, sondern dass es vor allem um die Herausbildung einer Persönlichkeit geht.“
Das Ende dieser elementaren biblischen Erzählung ist für Schneider-Ludorff auch Kriterium evangelischen Kircheseins: „Er zog seiner Straße fröhlich“. Die Bilanz dieser Bekehrungsgeschichte möchte die Präsidentin damit auch als Essenz der Generalversammlung zum Thema „Missionsland Deutschland“ gelten lassen. Damit verbunden ist die Einladung zur 102. Generalversammlung des Evangelischen Bundes vom 7. bis 10. Oktober 2009 in Berlin-Wannsee: „Evangelische Freiheit. Erbe und Auftrag der Liberalen Theologie im 21. Jahrhundert“.
Die 101. Generalversammlung des Evangelischen Bundes fand vom 1. bis 4. Oktober 2009 in Leipzig statt. Mehr als 150 Teilnehmende aus dem gesamten Gebiet der Evangelischen Kirche in Deutschland gingen in Bibelarbeiten, Vorträgen und Arbeitsgruppen dem Thema „Missionsland Deutschland“ nach.