Religion und Spiritualität in der Psychotherapie
Wer sich als Patient in die Behandlung bei einem Psychotherapeuten oder Psychiater begibt, sollte sich darauf verlassen können, dass die entsprechenden fachlichen Standards eingehalten werden. Aber wie sollen diese aussehen, wenn es um das Themenfeld „Religion und Spiritualität“ geht? Dazu gibt es sehr konträre Auffassungen. Hat Religion überhaupt etwas in einer nach wissenschaftlichen Standards arbeitenden Therapie zu suchen? Insbesondere in Deutschland gibt es diesbezüglich bei vielen Therapeuten eine große Skepsis. Auf der anderen Seite drängen buddhistische und esoterische Verfahren in die Praxen, die mit Achtsamkeit und Ganzheitlichkeit argumentieren. Studien bemühen sich, die Wirksamkeit des Handauflegens als therapeutische Maßnahme zu belegen. Ähnliches gilt für die Frage, inwieweit Gebete die Heilungsrate verbessern.
Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e.V. (DGPPN), nach eigenen Aussagen die größte medizinisch-wissenschaftliche Fachgesellschaft für Fragen der psychischen Erkrankungen in Deutschland, hat sich mit diesen Fragen befasst und eine „Task-Force-Gruppe“ eingesetzt, die ein Positionspapier erarbeitet hat, das künftig in diesen Fragen als Wegweisung dienen soll. Das Dokument ist u.a. über die Internetseite der DGPPN erreichbar.
Ausgangslage
Es ist nicht nur die Migration und Globalisierung, die auch Menschen in das säkularisierte Europa bringt, für die Religion ein solch elementarer Faktor ihres Lebens ist, dass er nicht in einer Psychotherapie komplett unberücksichtigt bleiben könnte. Auch hierzulande erwarten Patienten eine ganzheitliche Wahrnehmung ihrer Lebenssituation – und da gehört unbestreitbar auch die religiöse Dimension dazu. Diese hat aber zwei Seiten. Sie kann eine große Hilfe und Unterstützung in der Behandlung darstellen. Sie kann aber auch problematische Elemente aufweisen, etwa wenn ein Geisterglaube starke Ängste hervorruft oder das Bild eines strafenden Gottes in Unselbständigkeit und Abhängigkeit führt. In beiden Fällen aber erweist sich die religiöse Dimension als therapierelevant. Die Konfliktlinien in der Gegenwart verlaufen nicht einfach zwischen „gläubig“ und „ungläubig“, sondern „zwischen Menschen, die Kontingenzbewusstsein und Offenheit in ihr komplexes Selbst- und Weltverhältnis integriert haben, und denen, die totalitär strukturiert sind – gleichgültig, ob sie nun gläubig sind oder nicht.“ Die Aufgabe liegt dem Positionspapier zufolge in einem Kriterienbezogenen sachgemäßen Umgang: „Die in früheren Jahren vorherrschende Religionskritik und Pathologisierung von Religiosität und Spiritualität ist heute nicht mehr angemessen. Die kritische Haltung sollte aber nicht undifferenziert durch eine Idealisierung dieses Feldes ersetzt werden.“
Offene Fragen
Religion ja - aber wo und wie viel? Das ist - vereinfacht ausgedrückt, die Kernfrage hinter dem Positionspapier. Als „offene Fragen“ wird formuliert, in wieweit Sinngebung die Aufgabe von psychotherapeutischen Interventionen sein kann? „Wie weit darf die psychiatrisch-psychotherapeutische Begleitung des Patienten in seiner existenziellen, religiösen und spirituellen Suche gehen? Welche professionellen Grenzen sind notwendig und sinnvoll, um die Freiheit von Patient und Behandler zu schützen?“ Wo der Therapeut sich anmaßt, das ganze Leben des Patienten zu ordnen, ist der Schritt zum Guru nicht weit.
Empfehlungen
Die Empfehlungen des Positionspapiers laufen darauf hinaus, auf der Seite des Patienten die religiöse Dimension stärker einzubeziehen als dies bislang vielfach der Fall ist. Dazu gehört als erster elementarer Schritt, die individuellen Gesundheits- und Krankheitskonzepte in einer kultur- und religionssensiblen Weise zu erfragen. „Die Erfassung der Wertvorstellungen und religiösen Überzeugungen sowie deren Relevanz im Leben gehört zur psychiatrisch-psychotherapeutischen Anamnese.“ Für den Behandlungsplan ist es wichtig festzustellen, wo Religion und Spiritualität als Ressource und/oder als Belastungsfaktor für die Patienten zu erkennen sind. Für den Behandler ist damit die Herausforderung verbunden, sich auch auf eine andere Weltsicht und Wertvorstellungen als die eigenen einlassen zu können.
„Die Akzeptanz von religiösen/spirituellen Überzeugungen bei Patienten findet dort ihre Grenzen, wo Selbst- und Fremdgefährdung vorliegen.“ Zudem müssen die Regeln der therapeutischen Behandlung eingehalten werden.
Rollen unterscheiden
Auf der Seite der Behandler rät das Positionspapier hingegen zur Zurückhaltung. Psychiater und Psychotherapeuten sind verpflichtet, innerhalb des Methodenspektrums ihrer Profession tätig zu sein. „Dies schließt religiöse oder spirituelle Interventionen aus.“ Darin wird eine sinnvolle und notwendige Selbstbeschränkung gesehen. Damit die Spiritualität des Patienten gleichwohl Raum in der Behandlung haben kann, wird die Zusammenarbeit mit Seelsorgern angeregt, die ihrerseits auch ihr psychiatrisches und psychotherapeutisches Grundwissen aufbessern sollten.
In der Aus- Fort- und Weiterbildung sollten Kompetenzen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität mehr geschult werden. Das gilt einerseits „hinsichtlich eines Grundwissens von Religions- und Weltanschauungsfragen“. Andererseits ist im Blick auf Selbsterfahrungen „das Spannungsfeld zwischen der weltanschaulichen Neutralität und der religiösen oder spirituellen Selbstdeklaration des Psychiaters und Psychotherapeuten“. Auch Wahrheits- und Wertefragen sollen dabei reflektiert werden.
Ein Artikel im Deutschen Ärzteblatt zu dieser Thematik verweist auf das Positionspapier der DGPPN, verwässert aber seine Aussagen dahingehend, dass die Autorin auch „ergänzende“ spirituelle oder religiöse „Interventionen“ durch Psychotherapeuten für möglich hält1 - was im Positionspapier klar abgelehnt wurde. Dieser Vorgang zeigt, dass das Thema weiterhin kontrovers diskutiert werden wird.
1 Deutsches Ärzteblatt, Heft 2, Februar 2017, 70-73.
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