Digintatis infiniata
Nach einem Vortrag kam kürzlich eine Frau auf mich zu. Sie hatte ein Problem mit dem Begriff der Menschenwürde. Es könne doch nicht sein, dass schlimmen Verbrechern an der Menschheit, Diktatoren, Massenmördern usw. die gleiche Würde zugeschrieben werde, wie anderen, die sich aufopferungsvoll für das Wohl anderer Menschen einsetzen? Doch, genauso ist es. Das ist gerade der entscheidende Punkt: Die Menschenwürde hängt nicht an den Taten einer Person. Sie ist kein Verdienst für besondere Leistungen. Ihr Kern besteht darin, dass jeder Mensch ein geliebtes Geschöpf Gottes ist. Diese Würde ist unverlierbar und Basis des Anspruchs eines jeden Menschen auf dementsprechende Behandlung.
Das Beispiel aus der Praxis zeigt, dass die Frage nach dem christlichen Gehalt des Begriffes der Menschenwürde, die wiederum die Begründung für die Menschenrechte abgibt, nicht selbstverständlich ist. Das römisch-katholische „Dikasterium für die Glaubenslehre“ (früher: „Glaubenskongregation“) hat dazu im April 2024 die „Erklärung Dignitas infinita über die menschliche Würde“ veröffentlicht, die genau diesen Fragen nachgeht und ihnen eine biblische und lehramtliche Unterfütterung geben möchte.
Vier Arten menschlicher Würde
In der Einleitung wird eine vierfache Unterscheidung im Blick auf die menschliche Würde vorgenommen:
a) Ontologisch: Die Würde, die der Person als solcher als geliebtes Geschöpf Gottes zukommt. Sie ist auf Seiten des Menschen ohne Voraussetzungen. Daher kann sie auch nicht verloren gehen. Sie begründet sich aus dem Dasein als Mensch. Von dieser Würde handelt der größte Teil des Textes.
b) Sittliche Würde: Diese entsteht durch die Ausübung der Freiheit des Menschen. Weil sich Menschen auch für das Böse entscheiden können, können sie auch „unwürdig“ handeln.
c) Soziale Würde: Dies bezeichnet die Lebensumstände von Menschen – auch diese können durch Armut, Krieg, Gefangenschaft etc. „unwürdig“ sein, also nicht in Entsprechung zu der Würde, die ihnen als Mensch eigentlich zukommt.
d) Die existenzielle Würde eines Menschen kann z. B. durch schwere Krankheiten, Alter, durch gewalttätige Verhältnisse oder pathologische Abhängigkeiten so stark beeinträchtigt sein, dass von einem „unwürdigen“ Leben gesprochen wird. Jedoch erinnert gerade dies wiederum an die unverlierbare Würde als Mensch (a), die eben unabhängig von solchen Umständen besteht.
Theologische Grundlegung
Ausgangspunkt der theologischen Aussagen ist die Schöpfung nach dem Bilde Gottes (Gen 1,26). Dies beinhaltet einen „heiligen Wert“, „der alle geschlechtlichen, sozialen, politischen, kulturellen und religiösen Unterschiede übersteigt“. Dies dokumentiert sich in zahlreichen biblischen Texten. Im Buch Exodus zeigt sich „Gott als derjenige, der den Schrei des Armen hört, das Elend seines Volkes sieht, sich um die Letzten und Unterdrückten kümmert“ (Abschnitt 11 im Dokument). Die Rechtsvorschriften im Deuteronomium gelten als „Manifest der Menschenwürde“, indem sie Sicherheit für Waisen, Witwen und Fremde schaffen. In den Aussagen der Propheten wird diese Botschaft aktualisiert. Sie stellen das kritische Gewissen Israels dar. Jesus hat den Ausgestoßenen am Rande der Gesellschaft ihre Würde zurückgegeben (Zöllner, Frauen, Kinder, Aussätzige, Kranke, Fremde, Witwen, Hungrige…). „Für Jesus ist das Gute, das jedem Menschen getan wird, unabhängig von den Banden des Blutes oder der Religion, das einzige Beurteilungskriterium.“ (12)
Kirchliche Sichtweise(n)
In bekannter römischer Tradition werden früher vertretene falsche Auffassungen, die durch neuere Positionen korrigiert werden, nicht noch einmal erwähnt. Lehränderungen um 180 Grad (etwa in der Frage der Religionsfreiheit) finden sich in der schönen Formel versteckt: „Das kirchliche Lehramt selbst hat mit immer größerer Einsicht die Bedeutung dieser Würde eingedenk der damit verbundenen Erfordernisse und Konsequenzen erkannt und ist zur Erkenntnis gelangt, dass die Würde eines jeden Menschen über alle Umstände hinweg dieselbe ist.“ (16) Diese besondere Würde begründet sich aus 1. der Liebe des Schöpfers (s.o.), 2. der Menschwerdung Gottes in Jesus, 3. der Berufung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott in der Auferstehung.
Gegen Egoismus und Anthropozentrismus
Kapitel 3 ergänzt den Begriff der Menschenrechte um den der „Menschenpflichten“ und grenzt ein, es gehe nicht um eine „willkürliche Vermehrung neuer Rechte“ „als ob die Möglichkeit, jede individuelle Präferenz oder jede subjektive Befindlichkeit zu äußern und zu verwirklichen, garantiert werden müsse“ (25). Gegen eine rein selbstbezogene individualistische Freiheit sind die Pflichten zu beachten, die sich aus der Anerkennung der Würde des anderen ableiten. Dazu zählt auch die Verantwortung für die anderen Geschöpfe. Artensterben und Klimakrise werden explizit benannt.
Verstöße gegen die Menschenwürde
Das vierte und letzte Kapitel benennt beispielhaft „einige schwere Verstöße gegen die Menschenwürde“ und spricht dazu 13 Themenbereiche an. Die meisten sind naheliegend (das Drama der Armut, die Leiden der Migranten, der Menschenhandel). Auch den Themen „Gewalt gegen Frauen“ und dem „Phänomen der Frauenmorde“ sowie der Ausgrenzung Behinderter („andersfähige Menschen“) sind eigene Abschnitte gewidmet. Bei diesen Themen ist die Empathie mit den Leidenden prägend. Diese Haltung wird bei folgenden Ausführungen streckenweise vermisst.
Ganz im Rahmen bisheriger römischer Äußerungen bleibt die hart ablehnende Haltung zur Abtreibung, die allein das Lebensrecht des Embryos thematisiert und die Situation der Mutter mit keiner Silbe bedenkt. Auch die Ablehnung von Leihmutterschaft (und jeder Form von künstlicher Befruchtung) liegt auf dieser Argumentationslinie, ebenso wie die grundsätzliche Verurteilung von Euthanasie und assistiertem Suizid. Dahinter stehe ein „falscher Begriff von Menschenwürde“, der „gegen das Leben selbst“ gerichtet würde.
Lehramt hinterm Mond
Die letzten drei Themen sind leider so wirklichkeitsfremd, unterkomplex und fernab aller aktuellen wissenschaftlich-seriösen Debatten zu diesen Feldern formuliert, dass sie für den Text und seinen Herausgeberkreis unwürdig sind. Dabei handelt es sich um die Ausführungen zur „Gender-Theorie“, „Geschlechtsumwandlung“ und „Gewalt in der digitalen Welt“.
Fazit
Es ist erfreulich, dass mit Papst Franziskus das Thema der Menschenwürde und der Menschenrechte eine sehr prominente Unterstützung erfährt. Die theologische Grundlegung ist ebenso hilfreich wie die Korrekturen einer individualistischen Verengung im Blick auf Verantwortung und Rücksichtnahme. Leider hinterlässt der Schlussteil einen fahlen Beigeschmack und trübt damit das Gesamtbild.
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