Befreiung greifbar nahe

Sonderkongresse der Zeugen Jehovas (2006)
Befreiung greifbar nahe

Sonderkongresse der Zeugen Jehovas

Stadien können Menschen begeistern. In einem vollen Stadion entstehen gruppendynamische Prozesse ganz eigener Art. Die Begeisterung der Masse wirkt ansteckend. Man kann sich mitreißen lassen. Da ist man mit dabei. Das wissen nicht nur die Fußballvereine (Stichwort: Heimspiel) oder die Pfingstbewegung. Auch die im übrigen weltlichen Vergnügungen eher reserviert gegenüberstehenden Zeugen Jehovas haben keine Berührungsängste, diesen Raum für ihre Kongresse zu nutzen und das Massenerlebnis wirken zu lassen. Durch den höheren Gruppenzwang haben es die Veranstalter bei der Kalkulation der Teilnehmerzahlen leichter und erreichen besser gefüllte Ränge als bei „Calling All Nations“. 200 000 Teilnehmer sollen sich nach Presseberichten zu den Kongressen vom 21. bis 23. Juli 2006 in Dortmund, Frankfurt, Hamburg, Leipzig und München insgesamt versammelt haben. Diese Sonderkongresse fanden weltweit in ähnlicher Weise statt. Während sich amerikanische Zeugen zu „Deliverance at hand“ und französische Zeugen zu „Délivrance est proche“ versammelten, konnten die deutschen Zeugen Jehovas „Befreiung greifbar nahe“ auf ihren Programmen als Titel finden. Das weltweit im wesentlichen identische Programm beinhaltete Vorträge und Anspiele zu den Themen Predigtdienst, Gesundheit, Werbung für den Vollzeitdienst und die Frage nach der Autorität, der sich Zeugen Jehovas unterstellen.

Der Aufriss und die Themen machen deutlich: diese Kongresse sollen nicht in erster Linie nach außen wirken, sie sind kein Gottesdienst und keine Missionsveranstaltung. Ihre Zielrichtung weist nach innen: die Motivation der Zeugen Jehovas zu großer Ausdauer im „Predigtdienst“ (wie die Haustürmission intern bezeichnet wird) und in der Hingabe für die Organisation („für Jehova“, wie dies intern bezeichnet wird). Dazu dient der im Kongressthema vermittelte Druck des baldigen Weltendes, denn die angekündigte Befreiung ist natürlich nur dann eine Befreiung, wenn man in diesem Moment als treuer Zeuge befunden wurde.

In Deutschland bringen die Kongresse die Zeugen Jehovas in keine ganz leichte Situation. Als frischgebackene Körperschaft des öffentlichen Rechts wünschte man sich von der Gemeinschaft positive Signale zur Integration in die Gesellschaft. Dass die Pressestelle in der Lage ist, in dieser Hinsicht wohlklingende Sätze zu formulieren, hat sie im Rahmen des Prozesses und darüber hinaus genug bewiesen. In Bezug auf die Erziehungsmethoden in den Familien und die Publikationen der Organisation heißt es z.B. in der Pressemitteilung zur Körperschaftsverleihung vom 5. Juli 2006: „Dadurch tragen wir dazu bei, dass in den Familien Kinder und Jugendliche initiativ, gesprächsbereit und tolerant sind. Da sie bereits zu Hause lernen, im Sinne christlicher Nächstenliebe Konflikte friedlich und gewaltfrei zu lösen, sind sie in der Lage, an den Schulen zu einem guten Klima beizutragen.“ Das klingt doch wirklich nett. Nicht für die Öffentlichkeit, sondern für die eigenen Mitglieder bestimmt ist hingegen die Resolution, die am letzten Kongresstag in den Stadien verlesen wurde und von den anwesenden Zeugen Jehovas mit einem lauten „Ja“ angenommen und bekräftigt werden sollte. Stil und Inhalt sind hier eindeutig nicht auf Integration, sondern auf Abgrenzung zur Gesellschaft gerichtet. Möglicherweise ist dies mit ein Grund dafür, dass die deutsche Zentrale in Selters den Text auch auf Anfrage hin nicht zur Verfügung stellen wollte.1 Im Kasten befindet sich daher eine im Internet von ehemaligen Mitgliedern verbreitete und aus dem französischen übersetzte Version.2 Der exakte Wortlaut der deutschen Resolution kann daher möglicherweise etwas variieren. Die Grundaussage bleibt aber gleich. Es geht um die Trennung von der „Welt“ (d.h. faktisch alles außerhalb der Zeugen Jehovas) und die ausschließliche und rückhaltlose Hingabe an Jehova (d.h. faktisch an seine einzige rechtmäßige Organisation). Geheim ist der Text dennoch nicht, denn schließlich waren Gäste zu den Kongressen ausdrücklich eingeladen.

Neu ist eigentlich nichts von dem, was in der Resolution ausgedrückt wird. Aber in dieser ungeschminkten Deutlichkeit kann man es selbst im Wachtturm nicht oft lesen. Beachtenswert erscheint insbesondere Punkt 5. Er enthält nicht nur eine Absage an die Ökumene, also die Verständigung unter den Christen, die aus der Perspektive der Zeugen Jehovas von vornherein als ergebnislos abgestempelt wird. Das gleiche Verdikt betrifft auch soziale Aktivitäten und anderes gesellschaftliches Engagement. Der Einsatz für eine bessere Welt, für Frieden und Gerechtigkeit, für den Schutz der Umwelt und für die Verbesserung der menschlichen Lebensverhältnisse wird Zeugen Jehovas nicht direkt verboten. Aber was bleibt übrig, wenn man nichts tun darf, was dazu dienen könnte „ein System zu erhalten, das Gott verurteilt hat“ und zudem jegliche politische Mitwirkung am Gemeinwohl ebenso ausgeschlossen wird (Punkt 6). Das sind schon schwer verdauliche Aussagen.

Harald Lamprecht

1. Die vorgebrachte Begründung, während der laufenden Kongresse (in den USA sind sie noch nicht abgeschlossen) generell keine Kongressmaterialien herauszugeben, ist natürlich zu akzeptieren.

2. http://www.sektenausstieg.net/index.php?option=com_content&task=view&id=1479&Itemid=29

Artikel-URL: https://confessio.de/artikel/79

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 4/2006 ab Seite 05