Drachen statt Chakren

Beobachtungen auf der Leipziger Buchmesse
Messen zeigen Trends. Kann man auf der Cebit alljährlich bestaunen, in welche Richtung der technische Fortschritt die zunehmend computerisierte Welt treibt, so ist auf der Buchmesse in Leipzig etwas über das intellektuelle Klima der näheren Zukunft zu erspüren. Der ungebrochene Trend zum Hörbuch ist dabei vor allem für Verlage sowie für Schauspieler und Deutschlehrer interessant. Die Verlage sehen neue Absatzmärkte zur Zweitverwertung ihrer Titel mit den neuen Medien, die Schauspieler können mit Büchervorlesen etwas dazuverdienen und die Deutschlehrer sich auf weiter abnehmende Lese- und Rechtschreibfähigkeiten ihrer Zöglinge einstellen.

Schlaglichter

Die Buchmesse zeigt aber nicht nur wirtschaftliche, sondern auch religiöse Trends der deutschen Gegenwartskultur. Dazu gehört zunächst, dass regelmäßig diverse religiöse Sondergemeinschaften die große internationale Aufmerksamkeit zur Präsentation ihrer Ideen nutzen. So waren auch in diesem Jahr in der Nähe der verschiedenen christlichen Verlage die Stände von Christian Science und der Bahai-Religion anzutreffen, und mit einigem Abstand verstreut waren auch die verschiedenen der Anthroposophie zugehörigen Verlage (Urachhaus, Verlag Freies Geistesleben, Rudolf-Steiner-Verlag, Verlag am Goetheanum etc.) dabei.

Reißenden Absatz fanden viele Prospekte des Verlags „Der Islam“ mit so klangvollen Titeln wie „Mohammad, der Befreier der Frauen“, „Jesus in Kaschmir“, „Der Islam über Krieg und Kampf“ etc. Dahinter steht allerdings weder die sunnitische Mehrheit, noch die schiitische Minderheit des Islam, sondern mit der Ahmadiyya eine muslimische Sondergruppe, die sich selbst zum Islam zählt, von Sunniten wie Schiiten aber nicht anerkannt wird.

Eher in der politisch-ideologischen Richtung ist der Ahriman-Verlag angesiedelt, der sogar mit großen Anzeigen und Plakaten in allen Hallen auf seine Podiumsdiskussionen aufmerksam machte. Dahinter steht der „Bund gegen Anpassung“ (andere Bezeichnung: „Rotes Forum“) der als „marxistisch-reichistische Initiative aus der 1968er Bewegung hervorgegangen ist und die Ideen von Karl Marx mit Konzepten aus der Psychotherapie von Sigmund Freud und Wilhelm Reich zu verbinden suchte und in der Gegenwart immer wieder durch heftige Polemik gegen Staat und Kirchen auffällt.

Psychokurse und Motivationstrainings waren u.a. durch die Pallas-Seminare vertreten, die mit Dankbarkeits- Tagebüchern und den 10 Geboten des Erfolges von Alfred Stielau-Pallas Kundenwerbung betrieben.

Indien bleibt in Indien

Interessanter als die einzelnen Stände der verschiedenen Religionsgemeinschaften und Seminaranbieter sind die großen Trends. Da gibt es in der Tat verblüffende Beobachtungen.

Die erste betraf die Suche nach der Esoterik-Abteilung während meines Rundganges durch die verschiedenen Hallen der Messe. In den vergangenen Jahren war zu beobachten, wie dieser Sektor immer breiteren Raum im Sortiment einnahm. In großen Teilen der Hallen präsentierten die Verlage ihre gedruckten Wege zur Erleuchtung im Räucherstäbchenduft oder mit Energiepyramiden, in kosmischer Einweihung oder nach Channeling-Botschaften. Doch nicht so im Jahr 2005. Zwar fehlte der obligatorische Stand für die Analyse der Handlinien nicht, auch Tarotkarten und Rosenkreuzer-Bücher wurden angeboten. Doch wirkten diese Stände vergleichsweise verloren und isoliert - wie versprengte Reste eines ehemals viel größeren Bereiches. Im Gespräch äußerte ein Szene-Insider am Stand auch seinen Eindruck: Der Esoterik-Buchmarkt sei praktisch auf den Stand von vor 10 Jahren zurückgefallen.

Als Ursachen lassen sich bestimmt verschiedene Gründe benennen. Esoterik-Angebote gibt es ja nach wie vor an vielen Stellen. Allerdings scheint der Buchmarkt an dieser Stelle eine Sättigung erreicht zu haben, die eine Messeteilnahme für die Verlage nicht mehr attraktiv erscheinen lässt. Das führt zu dem erstaunlichen Befund: Kundalini-Meditation und Chakrenöffnung gibt es zwar noch im Buchladen und an der Volkshochschule, aber nicht mehr auf der Buchmesse. Im nachhinein habe ich erfahren, dass ich wohl eine Reihe mit solchen Ständen übersehen habe. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es möglich war, sie zu übersehen, weil sie abgeschlagen und an den Rand gedängt waren.

Magischer Drachenkampf

Die zweite Überraschung gab es hinter der Reihe mit den Schulbuch-Verlagen. Sozusagen im Rücken der Lehrer versammelte sich bunt und in Scharen das latente Gegenteil der ordentlichen Schulbildung und des seriösen Wissens: dort befand sich die Comic-Halle. Es war, als wechselte man plötzlich die Welten. Wo eben noch die ordentliche Welt der Erwachsenen, der Pädagogen und Erzieher war, die in sorgfältig gestalteten und didaktisch aufbereiteten Büchern blätterten, öffnete sich ein paar Schritte weiter wie durch eine unsichtbare Linie getrennt das Universum der comic- und fantasybegeisterten Heranwachsenden. Diese waren in allen Altersklassen zahlreich vertreten und tummelten sich vor mehreren großen Kino-Leinwänden, auf denen Non-Stopp Yu-Gi-Oh und andere actionreiche und mimikfreie mystisch aufgeladene Anime-Trickfilme liefen. Mehrere Abteilungen mit Tischen und Kartendecks luden dazu ein, im Duell mit den Karten gegeneinander anzutreten, sei es mit Pokemon, Yu-Gi-Oh oder Magic, the Gathering.

In die Comic-Halle integriert waren wohl wegen der gleichen Zielgruppe und ähnlicher Thematik die Phantasy-Verlage mit stufenlosem Übergang zur Reenactment-Szene, die mit historischer Akribie und hohem Aufwand Leben wir im Mittelalter (und davor) inszenieren.

In dieser Halle war ich alters- und kleidungsmäßig deplatziert. Orks mit Streitaxt, Bogenschützen in mittelalterlichen Phantasiegewändern und echte Japanerinnen in Kimonos erregen dort weit weniger verwunderte Blicke als Herren mit Jackett und Krawatte.

Magie allerorten

Gemeinsam ist weiten Teilen der Comic- wie der (Dark-)Phantasy-Szene die oft erschreckenden und hemmungslosen Brutalität der Darstellungen und Storys sowie der unverhohlene Hang zum Übersinnlich-Mystischen. Magie und Zauberkräfte gehören ebenso zum selbstverständlichen Repertoire vieler Geschichten wie phantastische Wesenheiten, Elfen, Feen, Gnome, Riesen, magische Drachen und Monster mit verschiedensten Fähigkeiten. Der Kampf zwischen Gut und Böse ist das bestimmende Thema. Allerdings ist mitunter nicht klar, was gut und böse ist bzw. auf welcher Seite der Spieler steht.

Diese Grundausrichtung lässt es nicht verwunderlich erscheinen, dass auch Verlage aus dem Umfeld der Gothic-Bewegung und Angebote aus dem Bereich des Protestsatanismus dort zu finden sind.

Fazit: Die Buchmesse ist nicht etwa weniger religiös geworden. Was aber die Religiosität der Jugend betrifft, so ist sie heute viel dunkler. Dies sollte als Problem ernst genommen werden.

Harald Lamprecht

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2005 ab Seite 13