Linus Hauser

Kritik der Neomythischen Vernunft

Menschen als Götter der Erde 1800-1945
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Cover Kritik der Neomythischen Vernunft

Zu den, bisweilen in Frage gestellten, aber gleichwohl verlässlichen Konstanten der westeuropäischen Gegenwart gehört der Umstand, dass traditionelle kirchliche Bindung zwar immer mehr abnimmt, der Mensch aber gleichwohl und wohl auch „unheilbar“ religiös ist, und dementsprechend Wünsche und Sehnsüchte hat, diese aber nicht mehr im Rahmen traditioneller Kirchlichkeit zu verwirklichen sucht.

Dies führt in der Konsequenz zum Phänomen einer wildwuchernden „neuen Religiosität“, die kaum noch überschaubar ist und deren Beurteilung und Einordnung selbst Fachleuten schwer fällt.

Bereits bei der Einordnung tun sich Probleme auf, bereits bei der Einordnung zeigt sich auch die Perspektive dessen, der das jeweilige Thema bearbeitet. Ob man pauschal von „Sekte“ redet oder von „neuer Religiosität“, ob man dem Unterschied zwischen festen Gruppenbildungen und spontanen und weitgehend unorganisierten esoterischen Workshops und deren Gruppenbildungen Gewicht beilegt, oder ob man gar den aus den 70er Jahren stammenden Begriff „Jugendreligionen“ verwendet - immer steht man vor dem Dilemma, dass das, was man beschreiben will, im Grunde nicht mehr auf einen Begriff gebracht werden kann.

Dem Gießener katholischen Systematiker Linus Hauser nun kommt das Verdienst zu, die Vielzahl neureligiöser Phänomene auf einen einheitlichen Begriff gebracht zu haben, und zugleich eine Geschichte des Phänomens „neue Religiosität“ mit klarer und fundierter Kritik sowohl der grundlegenden Prämissen als auch einzelner, herausragender Exponenten zu verbinden.

Es liegt auf der Hand, dass ein solches Unterfangen ein Schwergewicht darstellt - dies sowohl quantitativ als auch vom inhaltlichen Anspruch her.

Zwar lesen sich die einzelnen Abschnitte unterschiedlich schwer (die einleitenden Begriffsbestimmungen sind aufgrund ihrer Komplexität recht zäh zu lesen, wogegen etwa die Abschnitte über Hörbigers Welteislehre oder Lanz von Liebenfels „Sodoms Äfflinge“ ausgesprochen spannend zu lesen sind), aber insgesamt liegt ein Buch vor, dass nicht nur als „Steinbruch“ oder Nachschlagewerk vernutzt, sondern im Zusammenhang gelesen werden will.

Und zugleich ist dieser Band nur der erste von insgesamt drei Bänden - man darf also auf die beiden folgenden Bände, die die Zeit nach 1945 und als besonderen Schwerpunkt die Geschichte der modernen Wissenschaft zum Thema haben, gespannt sein.

Betrachtet man unter dieser Voraussetzung den vorliegenden Band, dann ist zunächst der von Hauser eingeführte Begriff der „religionsförmigen Neomythen“ zu beachten. Unter diesem Begriff subsummiert Hauser das, was gemeinhin unter „neue Religiosität“ firmiert. Dieser Begriff wird in einem ersten, grundlegenden Teil dargestellt.

Hauser geht dabei von folgender Definition aus: „Religionsförmige Neomythen sind ein kulturelles und individuelles Sich-Beziehen auf Endlichkeit ohne Bewusstsein ihrer Radikalität und im Bewusstsein der realen Aufhebung derselben durch das Handeln des Menschen oder anderer endlicher Mächte.“ (S.55)

Mit dieser Definition ist zugleich der Unterschied zur christlichen Verkündigung mitgegeben - denn diese nimmt die Endlichkeit des Menschen in ihrer vollen Radikalität ernst und erwartet eine Erlösung durch das Eingreifen eines jenseitigen und dem Menschen unverfügbaren Gottes.

Dieser Mythosbegriff wird im Folgenden zunächst begriffsgeschichtlich präzisiert, wobei mir als protestantischem Theologen auffällt, dass die - zumindest für die protestantische Theologie im 20.Jahrhundert prägende - Frage nach dem Bultmannschen Entmythologisierungsprogramm überhaupt nicht gestellt wird.

Dies ist insofern auffällig, als Bultmanns gewiss hinsichtlich des Mythosbegriffes ergänzungsbedürftiges Entmythologisierungsprogramm doch eine mögliche Antwort auf die ausufernden Neomythen darstellt, eine Antwort, die m.E. eher vor uns als hinter uns liegt. Trotz - oder vielleicht wegen (?) - des fehlenden Verweises auf Bultmann sind aber Definition und Darstellung des Mythosbegriffes stimmig und überzeugend.

An diese begriffliche Klärung schließt sich dann eine Darstellung der Religionsförmigkeit der modernen Technik und der „Metaphysischen Orientierungsaufgaben der Moderne“ an, ehe im 2. Hauptteil die Grundlagen modernen Denkens in Aufklärung und Romantik dargestellt werden. Vor allem in diesem Teil besticht der ungeheure Horizont des Autors, mit der eine Vielzahl von Schriftstellern genannt und Gedichten zitiert wird.

Doch dies alles ist im Grunde nur Vorspiel zur Darstellung der religionsförmigen Neomythen im 19. und 20. Jahrhundert, die im 3. Hauptteil geleistet wird.

Hier stellt Hauser, beginnend mit Mesmerismus und Spiritismus und endend mit Adolf Hitler, quasi eine Geschichte moderner, neomythischer Spiritualität dar, die durchaus das Zeug hat, auf längere Zeit hinaus als grundlegende Einführung zu dienen. Immer wieder werden einzelne Personen (etwa die amerikanischen Fox-Schwestern, die für die Popularisierung spiritistischer Gedanken in den USA eine wesentliche Bedeutung haben) spannend und interessant vorgestellt, und zugleich in den größeren Zusammenhang der Entwicklung von Neomythen gestellt.

So wird die Geschichte der religionsförmigen Neomythen im 19. und frühen 20.Jahrhunderts dargestellt, bis schließlich Adolf Hitler die Darstellung mit dem Fanal dafür, „dass es einen Neomythos gibt, der das Humanum global zu gefährden vermag“ (Klappentext), beendet.

Zusammenfassend bleibt der Eindruck eines enorm komplexen Buches, das mehrmalige Lektüre verdient und das die Diskussion über das, was landläufig „neue Religiosität“ genannt wird, enorm bereichern wird.

Ich bin schon auf Band 2 gespannt.

Pfr. Heiko Ehrhardt

Linus Hauser, Kritik der Neomythischen Vernunft., Band 1: Menschen als Götter der Erde (1800 - 1945),
Paderborn 2004, ISBN 978-3506776020

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Autor
HE
Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 6/2004 ab Seite 09