Ein muslimisches Manifest

Dokumentation muslimischer Stimmen zum Karikaturenstreit

Nach der Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen dominierten Bilder von erzürnten und gewalttätigen Menschen in islamischen Ländern die Medien. Als Gegenbeispiel sei nachfolgender Text dokumentiert, den zwei Muslime, der Autor Mustafa Akyol und die Wissenschaftlerin Zeyno Baran, als ein muslimisches Manifest entworfen haben. Wohl wissend, dass dieser Text derzeit nicht die Mehrzahl der Muslime repräsentiert, wäre ihm dennoch weitere Akzeptanz unter den Muslimen zu wünschen. Eine reihe muslimischer Intellektueller hat sich diesem Manifest inzwischen angeschlossen.

Die respektlosen Karikaturen über den Propheten Mohammed (Friede sei auf ihm), veröffentlicht in der „Jyllands-Posten“, haben jüngst zu extremen Reaktionen vieler Muslime auf der ganzen Welt geführt. Während wir die Gefühle unserer Glaubensgeschwister verstehen, bitten wir sie eindringlich, von Rache und Gewaltakten abzusehen.

Eifer für Gott ist nur legitim, wenn er in einer aufgeklärten Art zum Ausdruck gebracht wird, denn Gott selbst hat uns eine zurückhaltende Erwiderungsweise auferlegt. Als ihre heidnischen Zeitgenossen sich über die ersten Muslime lustig machten, da gebot der Koran ihnen nicht etwa, sich mit Gewalt zu wehren, sondern eine zivilisierte Ablehnung: „Wenn ihr hört, dass die Verse Gottes zurückgewiesen und verspottet werden von den Leuten, dann sollt ihr nicht mit ihnen sitzen, bis sie anfangen, über etwas anderes zu sprechen“ (Koran 4,140). Der Koran beschreibt die Muslime außerdem als „diejenigen, die ihre Rache kontrollieren und anderen Menschen vergeben, (denn) Gott liebt jene, die Gutes tun“ (Koran 3,134). Darum sollten alle Demonstrationen gegen die Verspottung des Islams friedlich sein. Kritikern des Islams sollte nicht mit Drohungen und Gewalt, sondern mit rationalen Gegenargumenten begegnet werden.

Wir glauben ferner, dass terroristische Akte niemals gerechtfertigt oder entschuldigt werden können. Keine der Herausforderungen, denen Muslime gegenüber stehen - etwa Unterdrückung oder militärische Besatzung - können Angriffe gegen Nicht-Kombattanten legitimieren. Im Heiligen Koran befiehlt Gott den Muslimen, „niemals irgendjemandes Hass zu erlauben, euch in die Sünde des Abweichens vom Recht zu treiben“ (Koran 5,8). Das wahre islamische Verständnis von Gerechtigkeit lässt sich besonders gut in den Überlieferungen über den Propheten Mohammed (Friede sei auf ihm) finden. Selbst in Zeiten des Krieges - vom Frieden gar nicht zu reden! - sollen islamische Soldaten niemals „den Alten, den Säugling, das Kind oder die Frau töten“. Diejenigen, die solches tun, sind keine Märtyrer, sondern kaltblütige Mörder.

„Theokratische Herrschaft akzeptieren wir nicht“

Wir halten die Religionsfreiheit hoch, und zwar auf der Grundlage der im Koran zu findenden Bestätigung, dass „es in der Religion keinen Zwang gibt“ (Koran 2, 256). Jeder Mensch hat das Recht, an den Islam oder jede andere Religion zu glauben oder nicht zu glauben. Darüber hinaus haben alle Muslime das Recht, ihre Religion zurückzuweisen und zu wechseln, wenn sie es wollen. Kein Staat, keine Gemeinschaft und kein Individuum hat das Recht, anderen den Islam aufzuzwingen. Die Menschen sollten den Islam annehmen und praktizieren, weil sie an seine Lehren glauben, und nicht, weil sie dazu gezwungen werden.

Wir unterstützen die Demokratie und halten sie hoch - nicht, weil wir die Souveränität des Allmächtigen über die Menschen zurückweisen, sondern weil wir glauben, dass diese Souveränität sich im allgemeinen Willen der Menschen in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft manifestiert. Theokratische Herrschaft akzeptieren wir nicht - und zwar nicht etwa, weil wir nicht wünschten, Gott zu gehorchen, sondern weil theokratische Herrschaft automatisch zur Herrschaft fehlbarer (und manchmal korrupter und fehlgeleiteter) menschlicher Wesen im Namen des unfehlbaren Gottes wird.

Wir akzeptieren die Legitimität des säkularen Staates und säkularer Gesetze. Das islamische Gesetz, die Scharia, wurde in einer Zeit entwickelt, zu der Muslime in homogenen Gemeinschaften lebten. In der modernen Welt sind praktisch alle Gesellschaften pluralistisch, sie setzen sich zusammen aus verschiedenen Glaubensbekenntnissen und unterschiedlichen Wahrnehmungen jedes einzelnen Glaubens, den Islam eingeschlossen. In dieser pluralistischen Umgebung kann ein Rechtssystem, das auf einer bestimmten Version einer einzigen Religion besteht, nicht auf alle Bürger angewandt werden. Aus diesem Grund wird ein einziges, säkulares Recht, das für alle Religionen offen ist aber auf keiner von ihnen basiert, dringend nötig.

„Wir lehnen Antisemitismus ab“

Wir glauben, dass Frauen dieselben unveräußerlichen Rechte haben wie Männer. Wir lehnen Gesetze und Einstellungen in einigen islamischen Gesellschaften strikt ab, die Frauen durch die Verneinung ihres Rechts auf Bildung, politische Teilhabe und ihr individuelles Recht auf Glück ausschließen. Genauso wie Männer sollten auch Frauen das Recht haben zu entscheiden, wie sie leben, sich kleiden, reisen, heiraten und sich scheiden wollen. Wenn sie diese Rechte nicht genießen, bedeutet das, dass sie ganz klar Bürger zweiter Klasse sind.

Wir glauben, dass es keinen Widerspruch zwischen religiösen und nationalen Identitäten gibt. Jedem Muslim sollte es möglich sein, die Staatsbürgerschaft eines modernen säkularen Staates anzunehmen und zur gleichen Zeit ein Gefühl der spirituellen Solidarität mit der Umma, der globalen Gemeinschaft der Muslime, zu bewahren.

Wir betrachten das Christentum und das Judentum als Geschwister-Religionen in der gemeinsamen Familie des abrahamitischen Monotheismus. Wir lehnen Antisemitismus strengstens ab. Viele Jahrhunderte lang war er dem Islam fremd, erst in den letzten Jahrzehnten hat er unglücklicherweise starke Popularität unter einigen Muslimen gewinnen können. Wir akzeptieren Israels Existenzrecht genau so wie die legitimen Hoffnungen des palästinensischen Volkes auf einen souveränen Staat, und hoffen, dass eine gerechte Zwei-Staaten-Lösung in Israel/Palästina dem Heiligen Land Frieden bringen wird.

Kurz gefasst: Wir verurteilen alle jene und widersprechen ihnen deutlich, die für Tyrannei und Gewalt im Namen des Islam werben oder sie praktizieren. Wir hoffen, dass ihre fehlgeleiteten Taten unsere edle Religion nicht verdunkeln - sie stellt in der Tat einen Pfad zu Gott dar und einen Aufruf zum Frieden.

 

Mustafa Akyol, Zeyno Baran

(Übersetzung: Yassin Musharbash)

Artikel-URL: https://confessio.de/artikel/116

Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 2/2006 ab Seite 07