Im Stadion der Belehrung

Eindrücke vom Bezirkskongress der Zeugen Jehovas in Dresden

Sie finden jedes Jahr wieder statt und haben für die Mitglieder eine große Bedeutung: die Bezirkskongresse der Zeugen Jehovas. Jeweils in den Sommermonaten wird in vielen Regionen in Deutschland für drei Tage ein Fußballstadion oder ein ähnlich großer Veranstaltungsort gemietet. In Berlin war es das Velodrom, in München das Olympiastadion, in Frankfurt am Main die Commerzbank-Arena. Dorthin kommen die Zeugen Jehovas aus der näheren und weiteren Umgebung geströmt, um einer langen Reihe von Vorträgen zuzuhören. Die größte der diesjährigen Veranstaltungen war mit ca. 40 000 erwarteten Teilnehmern in Dortmund.

Öffentlich und unbemerkt

Die Veranstaltungen sind öffentlich. Jeder Interessierte kann problemlos daran teilnehmen. Allerdings sind externe Gäste selten. Es sind Massenveranstaltungen inmitten der Städte, von denen aber die sonstige Bevölkerung nur wenig mit bekommt. Für Außenstehende sind sie auch nicht besonders attraktiv. Die Teilnehmer tragen große Ansteckschilder, auf denen unter dem Namen auch der Herkunftsort vermerkt ist. Möglicherweise soll dies die Kontaktaufnahme untereinander erleichtern. Weil Zeugen Jehovas bevorzugt untereinander verheiratet werden, haben die Bezirkskongresse auch eine wichtige Funktion für die Anbahnung neuer Partnerschaften.

Auch unabhängig davon sind die Kongresse wichtig für den inneren Zusammenhalt. Dies gilt auf mehreren Ebenen. Zum einen haben solche Massenveranstaltungen einen stimulierenden Effekt. Es ist ein tolles Gefühl, von so vielen Gleichgesinnten umgeben zu sein. Die Vereinzelung des Alltags wird in einer Masse froh gestimmter Menschen mit ähnlichen Intentionen überwunden. Das ist im Fußball-Fanblock ebenso wie beim Kirchentag. Ansonsten ist so ein ZJ-Kongress eher das Kontrastprogramm zur Fußballbegeisterung und auch mit einem Kirchentag hat er kaum etwas gemeinsam. Es gibt keinen Dialog zu den aktuellen politischen Fragen, kein Hineinwirken in die Gesellschaft vom Standpunkt des christlichen Glaubens, sondern breit angelegte Belehrungen der Mitglieder, die gerade den Abstand zur „Welt“ und die Besonderheit des eigenen Dienstes für Jehova betonen.

Intensive Belehrung

Darin liegt die zweite Ebene der Wirkung dieser Bezirkskongresse. Zusätzlich zu den vielen wöchentlichen Veranstaltungen mit Wachtturmstudium und Predigtdienstschule bilden die Kongresse eine weitere Möglichkeit für die Leitung der Zeugen Jehovas, ihre Sicht der Dinge den Mitgliedern nahezubringen. Davon wird intensiv Gebrauch gemacht. Das Programm besteht im Wesentlichen aus einer langen Reihe von Vorträgen, die lediglich ab und an von gemeinsam gesungenen Liedern unterbrochen werden. Lediglich an zwei Nachmittagen gab es zwischen den Vorträgen ein als „Drama“ bezeichnetes Anspiel. Die Themen sind in den verschiedenen Kongressen in Deutschland weitgehend gleich – es gibt nur ein gemeinsames gedrucktes Programm ohne regionale Besonderheiten. In Dresden hat das nicht ganz gepasst, weil der Kongress durch eine Belegung des Stadions kurzfristig um einen Tag vorverlegt werden musste. Im Übrigen sind die Kongresse der Ort, an dem die Taufen neuer Mitglieder vorgenommen werden.

Die Tendenz vieler Vorträge ist bereits aus den Überschriften zu ersehen: „Für das Königreich keine Opfer scheuen!“ (in Dresden: Donnerstag 14:25 Uhr), „Sucht das Königreich, nicht materielle Dinge“ (Freitag 11:10 Uhr), „Haltet den Sinn auf die Dinge droben gerichtet“ (13:40), „Verhalten wir uns wie ein Bürger des Königreichs?“ (16:20), „Wann wird Gottes Königreich alle anderen Königreiche zermalmen?“ (Samstag 14:55 als Abschluss). Es sind Ermahnungen zu Engagement und Hingabe, um sich damit das Recht zu verdienen, in Gottes Königreich einzugehen.

Feinde des Königreiches

Besonders drastisches Beispiel ist die Vortragsreihe „Nimm dich in Acht vor den Feinden des Königreichs!“ vom Freitag Nachmittag. Vier Hauptfeinde und Gefährdungen wurden den versammelten Zeugen (wieder einmal) vor Augen gestellt: „Satan und die Dämonen“, „Babylon die Große“, „Abtrünnige“ und „Unsere eigene Unvollkommenheit“.

Dass Satan und die Dämonen in der alltäglichen Lehre der Zeugen Jehovas mitunter wichtiger als die Erlösung durch Christus sind, kann man auch in der Zeitschrift „Wachtturm“ immer wieder entdecken. In diesem Vortrag wurde insbesondere das Unabhängigkeitsdenken als „dämonisch“ klassifiziert. „Babylon die Große“ steht im Jargon der Zeugen Jehovas für die anderen Kirchen, oder noch allgemeiner für die „falsche Religion“ - was kurz gesagt alle Glaubensrichtungen betrifft, die keine Zeugen Jehovas sind. Als deren Markenzeichen wurde insbesondere angebliche Laxheit in moralischen und ethischen Fragen herausgestellt. Daraus folgte die Warnung: Gehorsam gegenüber Jehova gilt auch in der Frage, wen wir als Freunde aussuchen. „Lassen wir uns niemals in ein ungleiches Joch mit Ungläubigen spannen! Denn unsere Freunde und deren Denken haben ihre Wirkung bei uns. Sogar in der Versammlung müssen wir uns gute Freunde aussuchen.“

Abtrünnige

Als eine „weitere schleichende Gefahr, gegen die wir uns unbedingt wappnen müssen“ wurden sodann die Abtrünnigen benannt. Wie auch bei den anderen Vorträgen wurden kreuz und quer z.T. halbe Verse aus verschiedensten biblischen Büchern ohne Rücksicht auf den Zusammenhang zitiert, um die gewünschten Aussagen damit als „biblisch“ zu belegen. 2 Petrus 2,1a in Verbindung mit Röm 12, 17 wurde auf die „Abtrünnigen“ bezogen, welche „uns fortreißen, geistig aus dem Gleichgewicht bringen“ wollen. Darum müsse man „die im Auge behalten, die Spaltungen hervorrufen“ – freilich nicht ohne zur Konsequenz aufzufordern: „Und: Meidet sie!“. „Wenn also jemand beginnt, Spaltungen hervorzurufen, würden wir, im Sinne unserer eigenen geistigen Gesundheit innerhalb der Versammlung, einen großen Bogen um ihn machen. Hätte Eva dem Teufel nicht zugehört, wäre viel Leid erspart geblieben. Wir setzen uns daher keinem abtrünnigen Gedankengut aus, ob mündlich, schriftlich oder sonstwie multimedial!“ Mit diesen Worten forderte der Redner vehement die Selbstausgrenzung von kritischen, zweifelnden oder sonstwie nachdenklich gewordenen eigenen Mitgliedern und die Abschottung gegen jede Form kritischer Selbstreflexion. Eindringlich wurde davor gewarnt, diese Gefahr zu unterschätzen, denn die Abtrünnigen hätten ja in ihrer Zeit als treue Christen nicht gedacht, dass sie abtrünnig werden könnten. Daraus resultierte die Frage, wie es passieren kann, dass sich das Denken allmählich verändert. Anhand dreier Beispiele wurden Charakterzüge benannt, deren Unterdrückung die Gefahr der Abtrünnigkeit reduzieren soll. Egoistischer Stolz verhindere, dass die Dinge mit dem nötigen Respekt angenommen würden und treibe einen Keil zwischen Menschen. (3. Joh. 9). Ungeduld führe zu Spaltungen, wenn bei Klagen und Beschwerden über Zustände in der Versammlung nicht gewartet würde, bis Jehova zu seiner Zeit und durch seinen Kanal sich der Sache annehmen würde. „Und ein noch größerer Fehler wäre es, wenn wir darüber mit anderen Diskussionen anfangen oder auslösen, und vielleicht darüber jemanden zum Straucheln bringen.“

Als drittes Beispiel wurde die Undankbarkeit benannt, die sich in Murren und Nörgelei über ungelöste Probleme beklagen. Die Sorge des Redners: „In der Phase einer solchen Geistesverfassung braucht uns doch dann nur noch jemand zu begegnen, der meint, ‚Na, in Jehovas Organisation, da läuft doch so einiges schief…‘ Die Folge: „Wenn wir nichts gegen solche Gefühle tun, könnte es sogar passieren, dass wir lästerlich über herrliche, das heißt: verantwortliche Brüder sprechen. Mancher hat sogar eine kritische Haltung gegenüber dem ‚treuen und verständigen Sklaven‘[1] entwickelt - und dabei ganz vergessen, dass er gerade durch das Wirken dieses Sklaven die Wahrheit erkannt hat.“ Als vorbeugende Maßnahmen gegen diese schleichende Gefahr und „damit ihr alle übereinstimmend redet“ wurden Demut, Geduld und Dankbarkeit empfohlen.

Urlaub von Jehova?


Ein weiterer Redner stellte noch die eigene Unvollkommenheit als Feind von Gottes Königreich heraus. Sie führe dazu, allmählich mehr für die eigenen Wünsche zu leben, als dafür, was Jehova will. So wurde festgestellt, dass Urlaub zwar wichtig sei, aber von seinem Dienst für Jehova müsse man sich doch nicht erholen. Deshalb müsse man sich vor jedem Urlaub fragen: „Wirkt sich unser Urlaub auf unsere Kraft für Jehova störend aus oder hält er uns sogar davon ab, unser Verhältnis zu Jehova zu festigen?“ Im folgenden Anspiel erkannte ein junger Mann beim Nachdenken über einen zunächst verlockenden Supermarktprospekt, dass er für den Predigtdienst gar keinen neuen Computer braucht. Das Fazit: „Selbstbeherrschung ist das Gegenmittel, um dem schleichenden Gift des Egoismus zu entgehen.“ Im regelmäßigen Besuch der Zusammenkünfte, der Bibellese und dem Predigtdienst (von Haus zu Haus) wurde die Lösung der menschlichen Unvollkommenheit gesehen. Sonst würde der Zugang des Heiligen Geistes versperrt, während der Geist der Welt ungehindert eindringen könne.

Dieser kurze Ausschnitt aus dem umfangreichen Kongressprogramm muss hier genügen. An ihm wird bereits vieles deutlich, was das Leben von Zeugen Jehovas bestimmt und in welcher Weise sich die Organisation bemüht, ihre Mitglieder ‚bei der Stange zu halten‘.

Bibelhopping

Im Blick auf den Umgang mit der Bibel ist auffällig, in welcher Intensität nahezu alle Äußerungen mit Bibelstellen gewürzt werden. Damit wird für die Zuhörer der Eindruck erzeugt, die dargestellten Lehren würden den Aussagen der Bibel entsprechen. Dabei ist mitunter das Gegenteil der Fall. Das zusammenhanglose Zitieren von einzelnen Versen ist eine Methode, die es erlaubt, nahezu jede beliebige Auffassung als scheinbar biblisch fundiert darzustellen, wenn man sie nur passend garniert. Angesichts der Fülle von Zitaten aus den verschiedensten biblischen Büchern, aus verschiedenen Zeiten und historischen Kontexten – hier ein Evangelium, dort ein später Brief, dann wieder (und ausgiebig) altorientalische Spruchweisheit – ist es unmöglich, jeweils solide Einordnungen in den biblischen Sinnzusammenhang vorzunehmen. Eine solche Methode kann daher nur verzerrte Resultate liefern. Die Betrachtung von längeren Abschnitten der Bibel in ihrem Zusammenhang kommt zwar bei Zeugen Jehovas gelegentlich auch vor. Dominant sind aber diese Form der Anwendung von Zitaten und ihre Heranziehung als Beleg für mitunter völlig anders geartete Aussagen.

Angst, Ausgrenzung, Leistungsforderung

Viele Vorträge des Kongresses verbreiteten ein Klima der Angst. Von der Freude über die Erlösung durch Christus war nicht viel zu vernehmen. An diese Stelle traten Ermahnungen zur richtigen Lebensweise in den Regeln der Organisation, um vor Gott bestehen zu können. Das Mittel dazu ist in erster Linie Abgrenzung. Die Abgrenzung gilt gegenüber den anderen Kirchen („Babylon“), der Gesellschaft insgesamt und – das ist besonders perfide – gegenüber unsicher gewordenen zweifelnden eigenen Mitgliedern. Die Kreise der Abgrenzung werden immer enger gezogen. Dies erzeugt die eigentümliche Dynamik, die von Beobachtern und ehemaligen Mitgliedern als „sektenhaft“ wahrgenommen wird. Die Zugehörigkeit zum inneren Kern, zur kleinen Schar der geretteten Familie, zu den treuen Erwählten Gottes muss immer wieder neu durch besondere Leistungen gerechtfertigt werden. Das Engagement im Predigtdienst, das Zurückstellen eigener Interessen, Verzicht auf berechtigte Beschwerden, Demut und Unterordnung bei gleichzeitigem hohen Einsatz für die Organisation – das sind die in diesen Vorträgen propagierten Verhaltensweisen. Selbst von denen, die sich nicht mit voller Kraft diesen Zielen widmen, soll man Abstand halten. So bildet sich ein Sog nach Innen. Durch den Wunsch, doch dazugehören zu dürfen, für den inneren Kreis als würdig befunden zu werden, entsteht ein Leistungsdruck, dem sich ohne solche Strukturen wohl kaum jemand freiwillig aussetzen würde.

Geistige Abschottung

Drastisch wird in diesen Vorträgen die Unfähigkeit zum Umgang mit interner Kritik deutlich. Über Fragen und Zweifel darf nicht mit anderen Mitgliedern diskutiert werden, um sie nicht „zum Straucheln“ zu bringen. Ebenso deutlich ist die Angst davor, die eigene Auffassung gegenüber anderen Ideen nicht überzeugend verteidigen zu können. Daraus folgt die Abschottung und Ausgrenzung: Nur kein freundschaftlicher Kontakt zu Menschen mit anderen Auffassungen – nicht einmal zu Skeptikern innerhalb der eigenen Versammlung. Diese Maßnahmen und Vorschriften zeigen den Versuch, die Gruppe einzuigeln. Fremde Gedanken, Auffassungen und Ideen sollen draußen bleiben. Man will sich gar nicht mit ihnen auseinandersetzen. Zu groß ist die Angst, sie könnten etwas von den geglaubten Gewissheiten erschüttern.

Diese geistige Isolation der Mitglieder ist ein wesentlicher Grund für viele Konflikte, die im Umfeld von Zeugen Jehovas auftreten. Das Meinungsmonopol der Leitenden Körperschaft ermöglicht erst die Durchsetzung der vielen ausgrenzenden Forderungen, die das tägliche Leben von Zeugen Jehovas bestimmen. Wenn es einen freien gedanklichen Austausch über die Interpretation verschiedener Bibelstellen geben könnte, wenn eine offene Diskussion auch mit Personen außerhalb der Gemeinschaft möglich wäre, würde die Plausibilität vieler Lehren dahin schwinden. Warum sollen nur 144 000 mit Christus vor Gottes Thron stehen, wo diese Zahl doch die höchste symbolische Steigerung von Vollständigkeit ausdrückt (12x12x1000)? Warum dürfen nur die „Geistgesalbten“ von den Elementen des Abendmahls nehmen, wo Christus doch unmissverständlich gesagt hat „Trinkt alle daraus…“? Warum sollte das jüdischen Reinheitsvorschriften entstammende Verbot des Blutgenusses auf Bluttransfusionen bezogen werden, die nichts mit Essen zu tun haben und zu biblischen Zeiten noch gar nicht erfunden waren? Das sind nur einige Beispiele für möglicherweise aufbrechende Fragen, deren Reihe sich noch lange fortsetzen ließe. Wenn solchen Fragen Raum gegeben würde, könnte das für die innere Stabilität der Zeugen Jehovas weitreichende Folgen haben.So gesehen ist es verständlich, dass die Führung einen geistigen Austausch auf diese Weise verhindern will. Besser wird es davon nicht.

Befreiung

Das Stadion wieder verlassen zu können war ein Gefühl der Befreiung. Gewiss – die Menschen dort sind freiwillig da. Sie wirkten auch nicht alle bedrückt oder zerknirscht, sondern durchaus stolz und fröhlich über ihre große Veranstaltung, die ihnen zeigt, dass sie nicht allein den schweren Weg auf dem schmalen Pfad zum Heil gehen. Wenn man aber weiß, dass christliches Leben auch anders sein kann, dass die Liebe zu Gott Freiheit und nicht Knechtschaft bewirkt, dann kann eine solche Versammlung nur Beklemmung hervorrufen. Sie verlassen zu können, diese Last der Forderungen und Einschränkungen abwerfen zu können, ist eine echte Befreiung. Christen müssen sich nicht fürchten, mit anderen Menschen ins Gespräch zu kommen, wenn sie das Vertrauen auf Gott im Herzen tragen. Die Bibel zeigt Christen, die erlöst sind, weil sie auf Christus vertrauen und nicht auf ihre eigenen frommen Leistungen. Dies zu erkennen, wäre auch den Mitgliedern der Zeugen Jehovas zu wünschen.

Harald Lamprecht

 

 

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Dieser Beitrag ist erschienen in Confessio 4/2011 ab Seite 06