
Nach der Wahl ist vor der Wahl
Bei der vorgezogenen Bundestagswahl am 23. Februar 2025 haben 80% der Wahlberechtigten in der Bundesrepublik für demokratische Parteien gestimmt. So könnte man sich das Ergebnis schönreden, dass bundesweit 20% ihre Stimme für eine im Kern rechtsextreme Partei gegeben haben. In Sachsen ist deren Anteil deutlich höher (gesamt: 37,3%). Der Landkreis Görlitz ist mit 46,7% kein Ausreißer, in 10 von 17 Wahlkreisen sind es über 40% (auf Gemeindeebene bis zu 65%). Dass dies alles keine Überraschung ist, macht es nicht besser.
Das Motto „Nach der Wahl ist vor der Wahl“ hat seinen Sinn darin, dass es jetzt angezeigt ist, zu analysieren, welche gesellschaftlichen Maßnahmen rechtsextremistische Einstellungen und entsprechendes Wahlverhalten reduzieren und welche es bestärken. Dabei gibt es Faktoren, die schwer zu ändern sind. An anderen Stellen besteht aber durchaus Handlungsspielraum. Der sollte konsequent genutzt werden.
A) Rahmenbedingungen
Zu den nicht einfach zu beseitigenden Rahmenbedingungen zählen:
1. Globalisierung: Allgemeine Verunsicherung besteht infolge der Globalisierung: Die rasant zunehmende Digitalisierung ist maßgeblicher Treiber der Globalisierung, die Veränderung in vielen Lebensbereichen bewirkt. Der Trend zu immer größeren Wirtschafts- und Verwaltungseinheiten („Europa“) führt zu Strukturen, deren innere Logik von vielen Menschen nicht mehr verstanden wird.
2. Klimakrise: Die zunehmend zu spürende Klimakrise erzeugt weiteren Veränderungsdruck. Die notwendige Dekarbonisierung greift in viele Lebensbereiche. Veränderungen sind mit Umstellungsaufwand verbunden. Äußerlich erzwungene Umstellungen sind immer unbeliebt. In diese Kerbe schlägt die nicht nur subtile Propaganda einer fossilen Lobby, die diesen Prozess bremsen will – für ihren Profit und zum Schaden der gesamten Menschheit.
3. Migration: Kriege, instabile Verhältnisse, korrupte Regimes, schlechte Wirtschaftslage und zunehmend klimatische Unbewohnbarkeit zwingen Menschen zur Flucht. Die allermeisten Geflüchteten bleiben in der Nähe ihrer Heimat. Dennoch sind europäische Länder gerade wegen ihrer (relativen) Achtung der Menschenrechte, ihrer demokratischen Verfassung und den damit verbundenen wirtschaftlichen und sozialen Aufstiegschancen attraktiv für Einwanderung. Menschen in Deutschland sehen natürlich das Wohlstandsgefälle. Zwar wissen viele zumindest unterschwellig, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil des westlichen Wohlstandes aus ungerechten Verhältnissen resultiert. Daraus erwächst nun aber nicht automatisch die Bereitschaft zu teilen. Im Gegenteil, es dominiert die Angst, dass die eigene Komfortzone durch zu viele „Fremde“ beeinträchtigt werden könnte, die davon etwas wegnehmen wollen.
4. Terror: Islamistisch motivierter Terror ist nach wie vor ein realer Fakt, der starke Ängste auslösen kann. Terroranschläge sind in liberalen Staaten grundsätzlich nicht komplett zu verhindern. Immerhin: Sie sind auf dem denkbar niedrigsten Niveau der technischen Vorbereitung und Ausführung angekommen (Messerangriffe). Dennoch haben sie ihre Wirkung – die natürlich von denen hochgepeitscht wird, die von einer Spaltung der Bevölkerung profitieren.
5. Verklärung: Menschen neigen insgesamt zu einer Verklärung der Vergangenheit, weil (als Überlebensstrategie) positive Gefühle oft besser erinnert werden als negative. Deshalb sehnen sich Menschen nach der Rückkehr einer Vergangenheit, die es so allerdings nie gab.
Probleme
Zu diesen Rahmenbedingungen kommen die Probleme durch gesellschaftliche Defizite:
1. Demokratieverständnis: Weite Teile der Bevölkerung – insbesondere in Ostdeutschland – haben ein sehr rudimentäres Verständnis von Demokratie und demokratischen Prozessen. Das „die Mehrheit entscheidet“ reicht eben nicht. Warum es Minderheitenschutz ebenso braucht wie die Gewaltenteilung, welche Rolle eine freie Presse und das Demonstrationsrecht spielt, ist oft nicht gleichermaßen bekannt.
2. Demokratieerfahrung: Dazu kommt oft nur wenig praktische Erfahrung mit der eigenen Wirksamkeit in demokratischen Prozessen. Wer seine Beteiligungsmöglichkeiten nicht kennt, wird sie nicht nutzen. Was man nicht nutzt, wird man auch nicht verteidigen. Partizipation ist mühsamer als der Ruf nach einem Kümmerer, der die Sache mal in Ordnung bringen soll.
3. Fremdenangst ist evolutionär eingestiftet, kann aber durch Zivilisation eingehegt werden. Rassismus hingegen ist erlernt – wenn auch tief in unserer Kultur verwurzelt.
4. Desinformation: Verwirrung durch einander widersprechende Berichte und Behauptungen wird seit dem Siegeszug der (un-)sozialen Medien zur größten Herausforderung für die Demokratie. Sie macht es unmöglich, konstruktiv und sachbezogen über angemessene Lösungen für konkrete Probleme zu streiten. Die Debatte wird ersetzt durch Polemik und Anfeindungen. Seit diesem Jahr kommt hinzu, dass die großen amerikanischen Plattformen (X, Meta) nun auch noch gezielt in die Meinungsbildung eingreifen, indem „rechts“ klassifizierte Posts in ihrer Reichweite verstärkt und andere eingeschränkt werden.
B) Was nicht hilft (worse practice)
Der Wahlkampf war eine Sammlung von Negativbeispielen, die zeigen, wie es definitiv nicht funktioniert, rechtsextreme Stimmenanteile zu verringern.
1) Übernahme von Themen: Die Politikwissenschaft ist sich weitgehend einig, dass man rechtsextreme Parteien nicht dadurch eindämmt, dass man ihre Themen übernimmt und ihre Rhetorik kopiert. Das stärkt sie in jedem Fall. In der Wahrnehmung der Bevölkerung sind einzelne Parteien mit bestimmten Themen verknüpft. Sie haben gewissermaßen ein originäres Besitzrecht an diesen Themen („ownership“). Dort werden ihnen „Lösungen“ zugetraut. Das Thema Fremdenfeindlichkeit ist eindeutig und schon immer Kerngeschäft der Rechtsextremen. Wer rassistisch denkt und Menschen aus anderen Gegenden ablehnt, wird dort fündig. Keine bürgerliche und noch an einem Rest von Menschenrechten orientierte Partei wird jemals die Abwehr von Migration so scharf und radikal vertreten können, wie rechtsextreme. Jedes Eingehen auf dieses Thema unter dem Blickwinkel „Migration ist schlecht und muss eingedämmt werden“ führt dazu, dass rechtsextreme Parteien gestärkt werden – denn sie sind das Original darin.
Der Mechanismus greift auch in anderen Feldern. Den Grünen wird besondere Kompetenz in Umwelt- und Klimafragen zugetraut. Im Bundestagswahlkampf 2017 war Klima insgesamt ein Thema. Die Folge war, dass alles Engagement der anderen Parteien in diesem Feld (auch) die Grünen gestärkt hatte, so dass diese ihr bestes Ergebnis jemals bekamen und nur knapp die Kanzlerschaft verfehlten. Als Reaktion darauf haben fatalerweise die anderen Parteien Klimafragen wieder aus ihren Wahlkampfthemen nahezu komplett gestrichen – zum Schaden der Menschheit.
Allein beim Thema Migration hält sich hartnäckig der Irrtum, man könne durch martialische Rhetorik hier den rechtsextremen Parteien Stimmen abjagen. Das Gegenteil ist nun (wieder) offensichtlich.
2) Normalisierung in den Medien: Der Endspurt des Bundestagswahlkampfes brachte einen bislang beispiellosen Normalisierungsschub für den Rechtsextremismus. Alice Weidel war nahezu dauerpräsent auch im Öffentlich-Rechtlichen Rundfunk, mit dabei in den „Kanzler“-Runden – auf Augenhöhe mit den Kandidaten der demokratischen Parteien. Dass sie dort inhaltlich hauptsächlich mit Lügen und Unwahrheiten auffiel, stört ihre Fans wenig, die ohnehin nur die eigenen Lieblingssätze herauspicken und in den Social-Media-Kanälen verbreiten.
3) Missachtung von Menschenrechten: Die Rhetorik für härtere Abschiebungen oder Zumutungen für Empfängerinnen und Empfänger von Bürgergeld auch von „demokratischen“ sich als „Mitte“ verstehenden Parteien stärkt nicht nur die Rechtsextremen (s.o. B1), sondern erschwert auch die Abgrenzung erheblich. Die Achtung von Menschenrechten auf der Basis des Grundgesetzes ist ein wesentliches Unterscheidungskriterium zwischen demokratischen und rechtsextremen Parteien. Dieses wird auf solche Weise ausgehöhlt – zum Jubel der Rechtsextremen. Werden sie das nächste mal wegen unmenschlicher Forderungen kritisiert, verweisen sie darauf, sie würden doch nichts anderes verlangen als auch konservative Parteien.
4) Missachtung des Rechts: Im Wahlkampf kamen Forderungen auch von demokratischen Parteien, die zum Ausdruck brachten, dass sie bestehendes Recht einfach ignorieren wollen (z.B. Grenzschließungen wg. konstruierter „Notfälle“, Zurückweisungen an der Grenze ohne Verfahren, Einladung trotz internationalem Haftbefehl …). So etwas greift die Glaubwürdigkeit und Stabilität der Demokratie insgesamt an. Diese lebt davon, dass das Recht die Kraft hat, auch die Starken zu binden und nicht von bestimmten Menschen nach Belieben ignoriert werden kann.
5) Kaputte öffentliche Infrastruktur: Auch wenn Kausalzusammenhänge schwer nachzuweisen sind: Das Kaputtsparen der öffentlichen Infrastruktur steht in einer erkennbaren Korrelation zur Zustimmung zu rechtsextremen Parteien. Schlechter Zustand von Schulen, Krankenhäusern oder dem Nahverkehr kann Unzufriedenheit mit dem Staat verstärken. Das Gefühl der Vernachlässigung schafft Anfälligkeiten für populistische Botschaften. Schlechte Infrastruktur verstärkt zudem soziale Spannungen und Absonderung, was wiederum Ressentiments zwischen Bevölkerungsgruppen stärkt.
C) Was hilft? (Visionen)
In den kommenden vier Jahren wird gesellschaftlich viel davon abhängen, wie es gelingt, diese negativen Dynamiken zu stoppen und umzukehren. Was braucht es, um Rechtsextremismus zu stoppen?
1. Konsequente Orientierung an den Menschenrechten.
Der Verweis auf die Menschenrechte ist die Grundlage allen staatlichen Handelns gemäß dem Grundgesetz. Darin verwirklicht sich auch die christliche Erkenntnis, dass jeder Mensch seine unverlierbare Würde als geliebtes Geschöpf Gottes hat. Diese Perspektive darf nie aus dem Blick geraten. Sie muss oberste handlungsleitende Maxime sein. Natürlich gehört auch dazu, dass sie plausibel gemacht und erläutert werden. Letztlich profitieren alle davon, wenn niemand schlecht behandelt wird. Aber niemand kann sicher sein, wenn zugelassen wird, dass mit irgendwem unwürdig umgegangen wird.
2. Reale Probleme angehen
Die Politik hat vor allem die Aufgabe, reale Probleme zu lösen. Davon gibt es genug (Demografie, soziale Ungleichheit, Dekarbonisierung, Digitalisierung, Rente, Klimafolgen, Infrastruktur, Verkehr, Integration…). Diese müssen nach vorn gestellt und angegangen werden. Die Verschwendung von Ressourcen für Symbolpolitik gegen Scheinprobleme (z.B. Grenzkontrollen) muss aufhören.
Oft wird es dafür keine einfachen und schnellen Lösungen geben. Gerade deshalb gilt: Aufgabe der Politik ist es, die drängendsten Probleme zu identifizieren, dafür möglichst langfristig stabile Lösungsvorschläge zu entwickeln und dann für diese besten Lösungen zu werben und dafür Mehrheiten zu suchen. Es ist nicht Aufgabe der Politik, einfach nur zu tun, was eine vermeintliche Mehrheit will - ohne zu berücksichtigen, ob das langfristig gut oder schlecht ist.
Dazu gehört es auch, Zumutungen auszusprechen, wo sie nötig sind (z.B. beim Abbau fossiler Subventionen) aber auch eine positive Vision zu zeigen, wie es werden kann.
3. Desinformation bekämpfen
Die Einflussmöglichkeiten medialer Plattformen mit intransparenten Algorithmen, Erregungsbewirtschaftung und politischer Schlagseite müssen wirksam reduziert werden. Ansonsten ist eine sachbezogene freie Meinungsbildung nicht mehr möglich. Daneben braucht es Unterstützung für vertrauenswürdige Medienprojekte, die sich um ausgewogene Berichterstattung entsprechend den journalistischen Standards (Pressekodex) bemühen.
4. Stärkung politischer Bildung
Demokratie muss gelernt werden. Dafür braucht es 1. Kenntnis und 2. Erfahrungsräume, in denen Mitbestimmung positiv erlebt werden kann. Politische Bildungsprogramme auch für Erwachsene müssen darum ausgebaut (und nicht gekürzt) werden. Zudem braucht es vor allem auf kommunaler Ebene Experimentierfreude für Beteiligungsformate, um möglichst viele Menschen in Entscheidungen einbeziehen. Auch wenn dies manches Projekt etwas umständlicher macht – der Gewinn an Engagement für das Gemeinwohl ist es wert.
Zur politischen Bildung gehört auch Medienkompetenz und das Erkennen von Falschinformationen.
Fazit
Die Rahmenbedingungen für diese Aufgaben sind nicht ideal. Die international aufziehenden Schatten der Einflussnahme durch ein gekipptes faschistisches System aus den USA und der längst bestehenden Propaganda von russischer Seite machen es nicht leichter. Aber gerade diese Beispiele zeigen: Jede Anstrengung ist es wert energisch für Menschenrechte und Demokratie in Freiheit zu streiten.
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