Rückkehr zur Rückkehrökumene?
Was ist das Ziel der Ökumene? Dies ist eine der größten Streitfragen innerhalb der Ökumene. Die Uneinigkeit darüber ist am 4. November 2009 wieder deutlich geworden, als Papst Benedikt XVI. die Apostolischen Konstitution „Anglicanorum coetibus über die Errichtung von Personalordinariaten für Anglikaner, die in die volle Gemeinschaft mit der katholischen Kirche eintreten“ veröffentlichte. Darin wird unzufriedenen Mitgliedern der Anglikanischen Kirche die Möglichkeit offeriert, kollektiv zur röm.-kath. Kirche überzutreten und dort einen Sonderstatus in Form eines Personalordinariates zu erhalten, in dem ihre liturgische Tradition weiter bestehen kann. Der Vatikan preist das Dokument als einen Schritt zu mehr sichtbarer Einheit der Kirche. Ist es das wirklich? Vielen Beobachtern scheint es eher das Gegenteil zu bewirken: Verfestigung konfessioneller Spaltung und ein Rückschlag für die Ökumene. Die Tatsache, dass Befürworter wie Gegner des Dokumentes die Förderung der Ökumene zu beabsichtigen behaupten, weist darauf hin, dass hier großer Klärungsbedarf besteht.
Ziel der Ökumene?
Was bedeutet „sichtbare Einheit“ als Ziel der Ökumene? Wie verhält sie sich zur faktischen Vielfalt der Glaubensäußerungen? Bemüht sich ökumenische Arbeit um einen Grundkonsens im Verständnis des Evangeliums um darüber zu einer Gemeinschaft von Kirchen zu gelangen, welche sich gegenseitig anerkennen und die verbleibende Vielfalt als gegenseitige Ergänzung und Bereicherung erfahren können? Oder ist das Ziel die angestrebte Einheit durch (Wieder-)Aufnahme möglichst vieler Gläubiger anderer Konfessionen in die eigene Kirche zu erreichen? Das Letztgenannte war bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil die offizielle römische Vorstellung von Ökumene: Einheit durch Rückkehr der versprengten Glieder in den Schoß der allein seligmachenden römischen Kirche.
Das Zweite Vatikanische Konzil hatte damit aufgeräumt. Die Kirche Jesu Christi war nicht mehr einfach schlicht mit der röm.-kath. Konfesionskirche identisch (lat. „est“), sondern verwirklichte sich in ihr (lat. „subsistit“). Eine positive Würdigung anderer Konfessionen war damit möglich geworden. Das konnte sogar bis zu der Feststellung gehen, dass aufgrund der Trennungen auch der röm.-kath. Kirche die „Fülle der Katholizität“ ermangele (UR 4,10). Die neue Sichtweise brachte einen Aufschwung an ökumenischen Erwartungen und entsprechenden Aktivitäten, welche die beteiligten Kirchen sehr befruchtet haben. In der evangelischen Kirche wurde durch die ökumenischen Impulse die Abendmahlsfrömmigkeit neu belebt. In der katholischen Kirche bekam die Bibel wieder einen höheren Stellenwert. Diese Prozesse zeigen, dass echte Ökumene durchaus die Einheit fördert.
Konservative katholische Ekklesiologie
Freilich war im Zweiten Vatikanischen Konzil die alte Sichtweise nicht völlig abgeschafft oder gar verboten worden. Konservative Katholiken konnten auch die Veränderung ignorieren und das neue „subsistit“ als altes „est“ deuten. In den vergangenen Jahren war zu erleben, dass diese Kräfte innerhalb der röm.-kath. Kirche zunehmenden Einfluss gewinnen konnten. Mehrere römische Lehrschreiben bemühten sich, diese konservative Deutung festzuklopfen und damit die ekklesiologische Öffnung des Zweiten Vatikanischen Konzils zurückzunehmen (2000: Dominus Iesus, 2007: Antworten auf Fragen zu einigen Aspekten bezüglich der Lehre über die Kirche). Das Dokument „Anglicanorum coetibus“ liegt leider ebenfalls auf dieser Linie. Obwohl es fleißig aus Deklarationen des Zweiten Vaticanums zitiert, ist es doch stärker getragen von der Ekklesioloige des Ersten Vaticanums und dessen papstzentrierter Theologie. Die dabei verwendete römische Hermeneutik verdient besondere Beachtung. Schon der erste Absatz der Erklärung zeigt rhetorische Kunstgriffe:
„In jüngster Zeit hat der Heilige Geist Gruppen von Anglikanern gedrängt, wiederholt und inständig darum zu bitten, auch als Gruppen in die volle katholische Gemeinschaft aufgenommen zu werden. Der Apostolische Stuhl hat diese Bitten wohlwollend aufgenommen. Denn der Nachfolger des heiligen Petrus, der vom Herrn Jesus den Auftrag erhalten hat, die Einheit unter den Bischöfen zu garantieren und der universalen Gemeinschaft aller Kirchen vorzustehen und diese zu schützen, kann es nicht unterlassen, die erforderlichen Mittel bereit zu stellen, um diesen heiligen Wunsch zu verwirklichen.“
Der in diesem Absatz erhobene Anspruch des Papstes, in direktem Auftrag von Jesus der „universalen Gemeinschaft aller Kirchen“ vorzustehen, verweist mit einer Fußnote auf die Konzilsdeklaration Lumen Gentium des Zweiten Vaticanums. Dort steht allerdings das hier Behauptete nicht in gleicher Schärfe, sondern der betreffende Abschnitt thematisiert etwas anderes, nämlich die kollegiale Einheit der Bischöfe mit dem Papst. Von der ökumenischen Öffnung, die Lumen Gentium durchzieht, bleibt in dem neuen Dokument nichts übrig. Was es entfaltet, ist ein neu profilierter Entwurf zur Rückkehrökumene.
Personalordinariat
Die Einrichtung sogenannter „Personalordinariate“ kann man sich als Bistum innerhalb eines Bistums vorstellen, in dem ehemalige Anglikaner eine Reihe von Ausnahmen zugestanden bekommen, ansonsten aber voll zur röm.-kath. Kirche gehören. Konkret beinhaltet es die Erlaubnis, Messen nach den eigenen liturgischen Büchern zu feiern und auch bereits verheirateten Priestern und Bischöfen die röm.-kath. Priesterweihe zu gewähren. Im Gegenzug müssen die Übertretenden den „Katechismus der Katholischen Kirche“ als Glaubensgrundlage anerkennen und die Leiter der Ordinariate, wie die katholischen Bischöfe auch, aller fünf Jahre zum Ad-Limina-Besuch zum Papst nach Rom reisen und Bericht erstatten.
Vorbild Unionskirchen?
Vergleichbare Zugeständnisse eines eigenen Ritus bei Anerkennung des Papstes und seiner Jurisdiktion hat Rom bereits den unierten Ostkirchen gewährt. Dies sind Kirchen orthodoxer Tradition, die von Rom mit dem Angebot einer begrenzten Selbständigkeit geworben wurden und in denen es auch verheiratete Priester, sowie eine eigene Liturgieform gibt. Die Ökumene gefördert haben diese Einrichtungen nicht – im Gegenteil: Weil in der Regel nicht alle Orthodoxen eines Gebietes sich an der Union mit Rom beteiligt haben, stellten die Unionen vor Ort faktisch eine Kirchenspaltung dar. Fortan gab es in den betreffenden Gegenden die traditionellen orthodoxen Kirchen und die neuen unierten orthodoxen Kirchen mit jeweils eigenem Klerus und Streit um Gebäude und Einflussgebiete. Die ökumenischen Gespräche haben die Querelen mit den unierten Ostkirchen sehr belastet.
Vorgehensweise
Initiiert wurde die Aktion von der Glaubenskongregation, nicht vom eigentlich für ökumenische Anliegen zuständigen päpstlichen Einheitsrat. Ebenso liegt die bleibende Zuständigkeit bei der Glaubenskongregation. Nach Auskunft der katholischen Herder Korrespondenz (12/2009, 595) gab es auch keine Absprachen mit den vor allem betroffenen katholischen Bischofskonferenzen in England und in den USA. Bei einer solchen Vorgehensweise gewinnt man den Eindruck, die ökumenischen Bedenken eines solchen Schrittes wollten bewusst nicht gehört werden, wenn alle außen vor gelassen werden, die sie vermutlich vorgebracht hätten.
Zwischenlösung oder Abwerbestrategie?
Faktisch läuft die Deklaration auf eine Abwerbestrategie hinaus. Der Streit in der Anglikanischen Kirche insbesondere um den Umgang mit Homosexualität wird kirchenpolitisch umgemünzt in den Versuch einer Spaltung der anglikanischen Kirche. Konservative und hochkirchliche Anglikaner sollen bewegt werden, in der Anerkennung des Papstes das kleinere Zugeständnis zu erblicken. Angesichts der Erfahrungen mit den Ostkirchen erscheint solches Vorgehen aber gerade nicht als weiterer Schritt zur Verwirklichung des Ziels der vollen sichtbaren Gemeinschaft in der Kirche Jesu Christi, sondern als kühle Machtpolitik einer Teilkirche zum Schaden der ökumenischen Bewegung.